Die Alte Sprache wiederfinden

Eine Muttersprache enthält eine ganze Welt; nicht nur die der Eltern, sondern auch die der Ahnen, den vollständigen Kulturraum, der sich in jedem einzelnen Wort äußert, also auch das Welt- und Naturverständnis, die Mythologie, das Eins- und Getrenntsein. Zwei Muttersprachen, also etwa das Deutsche und das Spanische, enthalten nicht einfach nur das Doppelte, sondern hier sind eins plus eins mindestens drei, wenn nicht viele.

Nun gibt es aber zwei Muttersprachen in jedem von uns, einerseits das, was wir üblicherweise als „Muttersprache“ bezeichnen, und die wortlose „Sprache der Mutter“, die tausendundeins Emotionen, Spielarten und Klänge des Vertrauens, der Innigkeit, der Liebe zwischen Mutter und Kind in seinen frühen Jahren; und in der die Sprache von Mutter Erde mitschwingt, eine Sprache also, die uns einst so selbstverständlich war wie dem Baum der Wind, oder der Blume die einkehrende Biene. Und die wir verloren haben mit unserem zunehmenden Erwachsenwerden und Abgerichtetsein auf die Welt. Oder nicht verloren, sondern vergessen haben, weil diese Ursprache zugeschüttet wurde wie ein Schatz von den herabfallenden Splittern und Brocken unserer Zivilisation, die Vertrauen durch Misstrauen, Innigkeit durch Objektivität und Liebe durch Vorsicht ersetzt hat.

Und doch scheint mir nicht alles verloren, im Gegenteil. Da ist ganz viel Hoffnung, dass wir uns an den Wortschatz der Liebe rückerinnern können; dass wir wiederauffinden können, was wir hatten und was uns einst alles war. Dass wir die jahre- oder jahrzehntelang übersehenen, eingestaubten Türen öffnen können, wenn wir unseren Blick für den Ahnungsraum in uns schärfen bzw. zulassen. Und dass wir dann mental und emotional bilingual werden, die Sprache der Liebe und die Sprache unseres Kulturraums beherrschen, auch wenn die Anfänge einer solche seelischen Zweisprachigkeit ähnlich mühsam sind wie das Erlernen einer Fremdsprache in späten Jahren. Dass sich diese beiden Sprachen, die Ursprache und die Kultursprache, gegenseitig befruchten und anreichern und einen prozesshaften Raum in uns erschaffen, der uns größer und empfänglicher macht und der uns hilft, von engen NehmerInnen zu großherzigen GeberInnen zu werden.