Lyrik 2

Die Vierzeilen-Welt

Seit ein paar Monaten gibt es Momente, in denen mir die Welt so rätselhaft klar erscheint, dass sie in vier Zeilen passt.

Und jedes Mal staune ich wieder und versteh die Welt nicht mehr. Und das ist – natürlich – gut so, denn alles andere wäre Täuschung.

Ein Beispiel, damit du, liebe Leserin, weißt, was dich erwartet

d

dank dem unvorhersehbaren wetter
dank dem wind der weht ohne mich
dank sei der sonne
und der zuverlässigen erde

[Die Vierzeiler tragen als Überschrift ihren ersten Buchstaben.
Indem er zur Überschrift wird, teilt sich das Gedicht quasi dem Universum mit
– oder dem Nichts, was mehr oder weniger – und erstaunlicherweise – dasselbe ist]

danke, gestern genügten
mir zwei arme nicht
die welt zu umarmen,
heute sind es schon vier

honig fließt durch die wolken
die ameisen von gestern sind heute spurlos verschwunden
belustigt spielen die palmwedel
mit dem morgenwind in costa rica

die hybris der azteken
war der anfang des westens
denn aus dem schrei der hähne
erhebt sich die welt

Damit’s nicht langweilig wird, wieder mal ein längeres Gedicht, das aber auch mit der Welt zu tun hat oder der Planetin …

Morgen

Die Fühler ausgestreckt,
tastend, schwenkend den Kopf,
mich und die Welt
und den ganzen Planeten.

Der Muskel,
der Schmerz,
der Schweiß,
das Blut,
das Gewissen,
alles da für uns
und bereit,
um Antenne zu sein
und Empfänger
der Botschaft.

Zum Frühstück die Sonne,
den Mond zum Abendbrot,
wohin ich mich wende,
die Sterne warten
in kühlem Licht.
Willkommen.

in der wildheit
liegt die bewahrung der welt*
in ihrer zähmung
unser ende

*Die ersten zwei Zeilen sind ein Zitat von H.D. Thoreau

links dein lächeln
auf der zitternden waagschale
rechts der untergang der welt
und am drehpunkt mein leben

manchmal bin ich
wie ich
aber
selten

manchmal klopft
der himmel an mein fenster
dann schaue ich auf
dann winke ich zurück

natürlich
liebt mich die erde
wie sonst
könnte ich dich lieben

im anderen nur schlummert
das geheimnis der welt
in der kirschblüte
mein ebenbild

anders zu sein erst
macht uns verwandt
mich der blüte
und die blüte der welt

Musik

Der Harfe Gesellschaft sein.
Im filigranen Geäst deines Körpers
glimmt schon der Anfang der Welt,
der zu mir herüberhaucht
als wehendes Angebot des Seins
der Harfe der Welt, der Harfe
der eng stehenden Fichten am Berg
und dieses melodisch bespielten Himmels
in mir.

oh
bevor der tag tagt
noch ganz schnell meinen mond
in den mond flüchten

oh, dass der in die städte
schwebende schnee
sich in tränen,
in schmutz verwandelt

trocken zu werden
gelingt mir nicht,
denn es regnet
bis unter die haut

wie die worte
verrieseln immer
bald nimmer
sternschnuppenschuppen

wie wir uns doch kennen
immer schon, geboren
aus tau und honig
aus dem süßen schoß der erde

zuhause
im warmen wasser der welt
geborgen im strahlenden licht
auf sich zuschwimmen