31. Oktober

Heute Morgen gelingt es mir erstmals, meine Morgenroutine komplett umzustellen: Zuerst kommt die Kür, die Arbeit an meinem Romanprojekt. Die Pflicht muss warten. Übrigens war die Ameise wieder auf meinem Schreibtisch unterwegs. Sie lässt sich überzeugen, auf meinen Finger und meine Hand zu krabbeln. So kann ich sie unverletzt nach unten in den Innenhof bringen und in die Pflanzen pusten.

Heute beim Morgenkaffee im Cafe Estudio um die Ecke wurde mir bewusst, wie sehr es gegen meine Gewohnheiten verstößt, kein Trinkgeld zu geben. Das ist hier immer schon im Preis enthalten: cargo por servicio, also Servicegebühr. Interessant: Die Ähnlichkeit mit dem englischen Cargo, Fracht, ist kein Zufall. Genau genommen bedeutet el cargo nämlich Fracht, Ladung. In übertragenem Sinn aber eben auch etwas Beladenes: die Pflicht, das Soll, die Gebühr, die Beschuldigung, Anklage. Witzigerweise auch das Wort für den Amtsinhaber (der diesem Verständnis nach offenbar eine Belastung ist). 😊

2. November

Im neuen Apartamento angekommen. Sehr angenehm. Carlos, mein Gastgeber, ein 73-jähriger Amerikaner, der mit einer 30-jährigen Guatemaltekin verheiratet ist, hat mich, angenehm aufmerksam und freundlich, eingewiesen.

Was die Warnungen der Bundesregierung angeht, so fühlen sie sich vor Ort wie Fehlinformationen an. In Antigua habe ich mich keinen Augenblick unsicher oder gar bedroht gefühlt. Es gab auch niemanden, der mich „beobachtet“ hätte. Das man als Weißer wahrgenommen wird, ist klar, aber eben so klar ist, dass man als harmloser Weißer wahrgenommen wird. Als ich gestern Abend Carlos von der offiziellen deutschen Warnung erzählte, lachte er nur und meinte, das sei seit den zwanzig Jahren, die er hier wohne, immer so gewesen. Er sei in dieser Zeit kein einziges Mal bedroht worden. Das klingt nicht wie eine Beruhigung, sondern wie eine Belustigung – und beruhigt damit umso mehr.

Um sechs Uhr ist es schon hell. Vor der Tür ein Baum, große tropische Pflanzen, ein linder Tag, in der Ferne begrüßen Hähne die Sonne, wie schön, und eine schwarze Katze, die mir miauend um die Beine streicht. VOR der Tür darf sie das gerne tun.

3. November

Jetzt sind meine Einkäufe für die Grundversorgung erledigt. Heute Morgen hatte ich ein ganz vorzügliches Frühstück, ein großes Müsli (das hier Granola heißt) mit Milch, Jogurt, Papaya- und Bananenstückchen.

Gestern Abend hatte ich mich nochmals mit Alistair und Lucia getroffen, wir saßen ein wenig am See und waren danach in ihrem AirB&B, wo Alistair für uns gekocht hat: buntes, nur leicht gegartes und relativ scharf gewürztes Pfannengemüse, dazu dunkles Quinoa und zwei daumenlange, dicke Würstchen, von denen ich nur eins gegessen und das zweite Lucia abgegeben habe. Mit ihr und jeder mit ’nem Glas Wein gingen wir durch einen langen Gang hinunter zum See, wo wir uns in zwei wellenförmige Betonliegen legten, den Sternen zusahen, dem Wellenschlag lauschten und uns dem großen Vulkan fügten. Ja, fügten; in solchen Minuten kann man gut verstehen, dass die Indigenen die Vulkane als „Wesen“ mit ganz eigenem Charakter betrachten.

Gegen halb neun ging ich wieder nach Hause. Den letzten Teil des Weges, vielleicht 200 Meter, muss man mit der Handy-Taschenlampe ausleuchten. Im allerletzten Stück hab ich mich tatsächlich verirrt (es sind kleine, wilde, unbeleuchtete Pfade, die bei Nacht, den geisterhaft großen Blättern und dem spärlichen Licht der Taschenlampe ganz anders aussehen) und kam zu ganz fremden Haustüren. Also stapfte ich wieder zurück bis zu einem Punkt, der mir bekannt vorkam, wandte mich nach links, statt nach rechts, und landete schließlich wohlbehalten vor unserem Gartentor.

Heute Morgen war ich zum Sonnenaufgang am See, der den Krater eines Supervulkans füllt, der vor 84.000 Jahren ausgebrochen ist. Der Name Atitlan entstammt einer indigenen Sprache und heißt „Ort mit viel Wasser“. In den Wäldern ringsum leben noch Pumas. Die häufig starken Winde am See heißen Xocomil und sollen die Seele eines unglücklichen Prinzen sein, der seine Geliebte sucht, die bei einer Bootsfahrt auf dem See ums Leben kam. Auf dem Seegrund befinden sich Reste einer Mayastadt aus der Zeit um 450 v.Chr. erzählte mir gestern Lucia. Sie habe auf einer Insel gelegen, die aber um 250 n.Chr. versunken sei.

Am Ufersteg sitzend wird es Tag, eine stille, behutsame Atmosphäre, so als könnte etwas zerbrechen, wenn man eine falsche Bewegung macht – oder falsche Gedanken denkt. Auf einem kleinen Fischerboot wirft ein Mann Netze aus. Ein kleines Stückchen vor mir sitzt ein junges Pärchen, sie mit glattem, langem schwarzen Haar, er mit einer braunen Kapuze, auf den Holzstufen und flüstert miteinander. Die hinter den Bergen emporsteigende Sonne hält sich zwischen Wolken versteckt, dazwischen Lichtvierecke wie kleine Drachen.

Wie überall, so sind auch hier streunende Hunde unterwegs. Auf eine Gruppe von ihnen wurde ich aufmerksam, als das Holz des Steges zu vibrieren begann. Ich sah mich um, drei Hunde kamen auf mich zu, einer von ihnen ein prächtiges, schwarzes Exemplar von einem Pitbull-Terrier mit breiter, bedrohlicher Schnauze. „It doesn’t bite“, sagte die zugehörige Amerikanerin, was der Terrier schwanzwedelnd unterstrich. „It’s been trained not to bite.“ Gut zu wissen. Sie und ihr Freund, beide so wirkend, als seien sie grade aufgestanden und hätte in den Hosen und Hemden geschlafen, mit denen sie vor mir standen, erzählten, sie würden seit fünf Jahren hier leben und auf dem Grundstück von Bekannten ein „Home for lost and stray dogs“ betreiben. Letztes Jahr sei die Community auf sie zugekommen und habe um Zusammenarbeit gebeten, es gebe ein „dog problem“.

Aus irgendwelchen Gründen habe ich hier kein Mittagstief und vergesse buchstäblich auf mein Mittagsschläfchen. Mit dem Ergebnis, das ich abends schon sehr früh arbeitsunfähig werde. Das muss sich ändern.

5. November

Gestern ist mir um 4 Uhr ein Mittagsschläfchen gelungen. Hat auch gut gewirkt, so dass ich erst gegen Viertel vor zehn schlafen ging. Ich hatte in einem Video von Gert Scobel über Lucid Dreaming einen Tipp gefunden, wie ich die Bewusstheit fürs Träumen steigern könnte: 6 Stunden Schlaf, dann eine halbe Stunde aufstehen und normaler Tätigkeit nachgehen, dann 1,5 Stunden weiterschlafen. Hab ich gemacht, hab mir um 4 Uhr den Wecker gestellt, hab ne halbe Stunde an meinem Romanprojekt gearbeitet und dann wieder bis 6 Uhr gepennt. Hat geklappt.

Ich habe beschlossen, doch zu meinem alten Tagesablauf zurückzukehren, sprich: zuerst die Pflicht, also die Datenbankarbeit, um den restlichen Tag für mich zu haben. Das hat heute natürlich noch nicht so recht geklappt, weil ich mich um halb acht mit Lucia und Alistair im Restaurante El Jardín (der Garten) zu einem letzten Frühstück verabredet hatte (eines der drei ältesten Restaurants hier mit vernünftigen Preisen), da sie heute Vormittag nach Antigua zurückfahren. Wir saßen zu dritt an einem der schönen Freiplätze – nach innen setzt man sich hier nur zur Not –, als ein Straßenverkäufer kam mit einem in blauschwarzem Stoffbündel auf dem Kopf, ein alter Mann, schwer zu schätzen, mein Alter mindestens, eher älter. Was er anzubieten hatte, waren Bananen und Avocados. Beides konnte ich brauchen, Avocados wollte ich heute sowieso kaufen. Beide Feldfürchte sahen wunderbar aus, die Avocados so groß wie ein Apfel. Ich bat also um eine Avocado „para hoy“ (für heute) und eine „para mañana“ (für morgen), außerdem vier Bananen. Da er ziemlich nuschelte, verstanden Ali und Lucia, es würde 20 Quezales (2,80 €) kosten. Die gab ich ihm, aber er war unzufrieden und nuschelte weiter auf die beiden ein, bis sie verstanden, dass er nur 10 Quezales wollte. Also gab er mir die 20 zurück und ich gab ihm stattdessen die 10 und alles war gut. Er band die jeweils gegenüberliegenden Zipfel seines Tuchs wieder übereinander, schwang sich das Ganze auf den Kopf – zehn Kilo könnten das gewesen sein – und ging freundlich winkend davon.

Mittags hab‘ ich ’nen Luxuseinkauf gemacht: einen großen Beutel Tostadas (geröstete und gewürzte Tortillas, ein ziemliches Suchtmittel), eine Flasche Rotwein (der hier durch die Nähe zu Argentinien und Chile einigermaßen erschwinglich ist, ordentlichen gibt es schon für 60 Quezales, als 7,20 €. Selbst die kleinsten Tiendas bieten Wein an), ein Pfund einheimischen Biokaffee und zwei Schokorollen (kann man sich als einen ca. 12 cm langen und 2 cm dicken Schololadenstab vorstellen, kann man direkt abbeißen). Hat alles zusammen ungefähr 140 Q gekostet, also rund 17 Euro.

Erste Kolibris hier im Garten gesehen. Das hat, jedenfalls beim ersten Mal, schon was Wundersames.

Interessant: Hier bin ich die Ausnahme.  Weiß zu sein ist die Ausnahme. Wohin auch immer ich mich begebe, ich werde auffallen. Also genau umgekehrt wie in Würzburg. Was ich jetzt lernen muss (und mir vorher wenig bewusst war, dass es sich AUCH dabei um Verhaltensmuster handelt), ist eine Art mönchisches Leben, das sich ganz, und unabgelenkt von außen, auf die eigene Quelle konzentriert.

Ich sitze ja beim Schreiben auf der Veranda. Nebenan ist offenbar auch ein größeres AirB&B mit einer halb von Bäumen verdeckten Dachterrasse. Von dort höre ich, wie eben, auch deutsche Töne. Der spontane Impuls war aufzustehen und die Landsleute zu begrüßen (ist mir hier erst einmal begegnet). Aber ich lasse den Impuls Impuls sein. Ich habe keinen Bedarf nach neuen Bekanntschaften, jetzt jedenfalls nicht.

Hab heute wieder ernsthaft mit Spanisch beschäftigt und auch bei Carlos‘ Schwägerin (via Facebook) wegen Spanischunterricht angeklopft. Heute Abend um sieben will sie sich mit mir in Verbindung setzen.

Über die guatemaltekischen Mücken kann ich übrigens nur Gutes berichten. Sie stechen zwar zuverlässig, aber ihre Stiche jucken im Vergleich zu deutschen Mückenstichen wenig. So wie die Menschen hier sind auch die Mücken zierlicher. Trotzdem ziehe ich mir neuerdings abends Socken an, die sie scheinbar nicht durchstechen. Ich hab’ mal bei Alistair nachgefragt, ob hier ein wirksames Repellent erhältlich ist (haben wir in Würzburg, leider vergessen).