Immerhin war der Zug pünktlich. Zwar kommt er auf Bahnsteig 6 statt auf Bahnsteig 7 an, aber das führt nur zu einer kleinen Verwirrung; denn Gerhard erwartet mich auf Bahnsteig 7, um mir zwei Bücher zu überbringen: „Die Kraft der Stille“ von Vimala Thakar (80 S., also gut bewältigbar) und ein ganz und gar unbekannter Roman von Gerhard Hauptmann „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ (570 S., wenn ich mal viel Zeit habe, ich verehrte G. Hauptmann ein wenig).

Gerhard hat ein wenig Zeit und begleitet mich freundlicherweise – ich bin doch ziemlich nervös wegen der unklaren Situation. Ich frage mich durch bis zu einem kleinen Schalter. Dort wartet ein junger dunkler Mann, sicher nicht älter als 25, auf mich, ist ganz Entspannung und Freundlichkeit, hört sich mein Problem an und meint: „Kein Problem, ich brauche nur Ihren Pass.“ Den krame ich raus, er klickt ein wenig auf seiner Tastatur herum, der Drucker läuft an und er überreicht mir mein E.S.T.A-Formular. Was es koste, frage ich. Nichts, meint er. Mir rollen mehrere Hinkelsteine vom Herzen und ich antworte: „Ich bete für Sie.“ (Hab ich noch nicht getan, also dann heute Nacht vor dem Einschlafen.)

Vor dem Ausgang B6 der Ankunftshalle soll mich der Bus-Shuttle des Intercity Hotels abholen. Also warte ich da – Gerhard hat sich inzwischen verabschiedet – und lese „Die Kraft der Stille“ an, genau das, was ich grade brauche. Die Fahrt zum Hotel – ich bin der einzige Passagier – dauert zehn Minuten. Mein Zimmer ist so, wie solche Zimmer eben sind: kühl, ein Hauch von Luxus, unpersönlich. Man muss sie bewohnen, um sich wohlzufühlen. Ich beschließe, mir erst mal ne Dusche zu gönnen und dann bei nem Gläschen Rotwein in der Hotelbar Gerhards Buch zu lesen. Als ich nackt unter der Dusche stehe und sie anmache, springt mir unter dem Druck des Wasserstrahls das Innenleben des Duschkopfs entgegen. Ist mir auch noch nicht passiert. Es wirkt ganz so, als sollten die einfachsten Gewissheiten auf dieser Reise entsorgt werden. Ich zieh ich mich also wieder an, marschiere mit den Duschkopfteilen zur Rezeption und beziehe ein anderes Zimmer. Diesmal gehe ich gleich zur Bar und dusche anschließend.

26. Oktober 2023

In der Abflughalle werde ich zu einer Check-in-Maschine verwiesen. Schon wieder etwas, das ich nicht kenne. Na ja, wird schon klappen. Es kommt aber gleich eine freundlicher, junger Mann, um mir bei der Prozedur beizustehen. Aber er kriegt meine Anmeldung nicht hin und verweist mich an einen herkömmlichen Schalter, wo das konventionell und maschinenlos (Erleichterung, Menschen oder wenigstens Rest-Menschen, denn natürlich sind auch nur Rädchen in diesem weltumspannenden Giganetz) geschehen kann. Ich stelle mich also in die Schlange, vor mir sind nur zweit andere Reisende, und lande an einem Schalter mit einer ca. 50-jährigen Frau vermutlich indischer Herkunft, sehr nett, sehr entspannt mit großen Ringen im Ohrläppchen und einem winzigen, hellleuchtenden Kristall im Tragus (dem kleinen Zäpfchen gegenüber dem Gehörgang). Ich sage ihr, dass ich das sehr hübsch finde, was sie offenbar freut und sie sich sogar für meinen Kommentar bedankt. Ihr erster Check-in-Versuch misslingt ebenfalls, aber beim zweiten Mal klappt es. Das System, meint sie, sage, ich müsse in Houston mein Gepäck abholen und neu einchecken. Sie überreicht mir zwei Papierstreifen, den einen zum Check-in in Frankfurt, den zweiten fürs Check-in in Houston. Wow, es ist geschafft. Wahrscheinlich fühlen sich Surfboard-Learner so, wenn sie dreimal vom Brett gefallen sind und zum ersten Mal fünf Minuten lang stehen bleiben.

Es ist jetzt ca. sieben Uhr und ich habe viel Zeit und Hunger. Dass die Preise hier unverschämt sind, gehört quasi dazu. Im Bistrot Airport habe ich zu ner Tasse Kaffee ein Mozzarella-Tomaten-Baguette erstanden, macht 11,50 €. Knapp drei Stunden bis zum Abflug. Time to read.

Auf einer (Plastik-)Sitzbank mit einem runden Tischchen davor genieße ich mein Frühstück und schau mir die anderen Fluggäste an, die wie ich rings um mich auf ihren Flug warten. So ganz bin ich den Stress noch nicht los. Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Gangs, vielleicht drei Meter entfernt, sitzt eine vielleicht 20-jährige Südamerikanerin, hübsch wie gemalt, mit schwarzen Schlabberjeans, schwarzem Pulli und schulterlangem, lockigen Haar. Genau gesagt sitzt sie nicht. Sie hat ihre Schuhe ausgezogen und lümmelt in einer Art Embryonalhaltung auf der Sitzbank, während sie an ihrem Handy rumspielt. Gelegentlich fließt ein Lächeln über ihr Gesicht und macht es noch hübscher, als es ohnehin schon ist. Ein wenig weiter sitzt ein junger Mann – vielleicht zehn Jahre älter als sie – mit sprießendem Schnurrbart und leichtem Kinnbärtchen. Ich kann nicht erkennen, ob auch er eher Südamerikaner ist oder Asiate, vermutlich eine Kombination aus beidem. Auch er hat sich seiner Schuhe entledigt und sitzt im Lotossitz (also doch eher Asiate) mit einer dunklen Daunenjacke quer über seine Beine gebreitet. Alle Deutschen bzw. deutsch Wirkenden sitzen vorschriftsgemäß, auch ich.

Ein Stück weiter hat sich ein anderer junger Mann niedergelassen, kräftig, eher eine Body-Building-Figur mit schwarzer Hose und schwarzem T-Shirt, das seine Oberarmmuskulatur perfekt betont (hätte ich auch gerne). Immer wieder fährt er sich liebkosend über seine frisch geschorene Glatze. Auf der rechten Seite seines Halses, also von mir aus gesehen links, hat er sich einen Strichcode auftätowieren lassen, nicht dezent, sondern unübersehbar fett, ca. zehn Zentimeter lang und vielleicht drei Zentimeter breit. Ein Mensch aus der Zukunft? Oder ein Mensch für die Zukunft? Warum macht man so was?

Links von mir auf der anderen Seite des Ganges hat sich ein Mann, die grüne Kapuze über den Kopf gezogen, zum Schlafen auf die Bank gelegt. Sein Kopf ruht auf seinem Rucksack. Was muss er schon hinter sich haben! Hinter ihm sitzt ein Paar um die 50, sie hübsch – sie hat das Beste aus sich „gemacht“ – mit blondiertem, strähnigem, halblangem Haar und großer schwarzer Brille, er schon grauhaarig mit schickem, sauber gescheiteltem Kurzhaarschnitt, Typ entspannter Börsenmakler. Er hat seinen linken Arm um die Schultern seiner Partnerin geschlungen und streichelt verträumt mit seinem Daumen und Mittelfinger ihren Rücken.

Direkt vor meiner Nase läuft ein strenger deutscher Polizist vorbei, mit der üblichen Waffe und allerlei freiheitseinschränkenden Geräten an seinem Gürtel. Obwohl nicht besonders groß, läuft er ein wenig John-Wayne-mäßig auf die zwei Schalter der Currency Exchange links von mir zu. Rot-weiß-schwarz beleuchtet hebt sich die hochmodern wirkende Geldwechselbude von der restlichen Halle ab. Was der Polizist – er ist um die dreißig Jahre alt, braunhaarig – dort wohl will? Geld wechseln? Er ist der Vierte in Schlange und wartet geduldig und breitbeinig, dreht sich aber immer wieder um und mustert die Halle auf irgendwelche gefährlichen Subjekte. Ich hoffe, er entdeckt mich nicht. Als er endlich dran ist, wechselt er kein Geld, sondern redet; nein er plaudert, legt seine Polizistenmütze am Schalter ab und wirkt plötzlich ganz fröhlich. Hinter der Glasscheibe entdecke ich eine junge, ausgesprochen attraktive junge Frau – Araberin? – mit einem weißen Turban. Ihre großen, schwarzen Augen strahlen bis zu mir herüber, obwohl ihr Blick natürlich nur auf ihren Besucher gerichtet ist. Zehn Minuten kann er bei ihr bleiben. Als er geht, diesmal nicht an mir vorüber, wirkt er sogar ein bisschen glücklich. Was er wohl seinen Vorgesetzten erzählt?

Der Flug

Auf jeden Fall ein Erfolg: Ich lese Gerhards mitgebrachtes Buch aus: „Die Kraft der Stille“ von Vimala Thakar. Viel natürlich schon gewusst, aber vieles auch vertieft und um neue oder vergessene Aspekte erweitert. Prima. 80 intensive Seiten. Der Airbus ist eine riesige Maschine mit acht Sitzen (2-4-2) in einer Querreihe (und zwei Gängen dazwischen). Ich sitze links im Viererblock neben einem Südamerikaner, der nur mühsam Englisch beherrscht, so dass unsere Gespräche schnell stecken bleiben. Auf diese Weise lese ich nicht nur viel, sondern auch schlafe auch immer wieder, so dass die ca. 11 Stunden Flug ziemlich rasch verfliegen (!).

In Houston kommen wir mit ca. 15 Minuten Verspätung an, kurz vor zwei Uhr. Mein Gedanke „da habe ich ja jede Menge Zeit bis zum Abflug um 16.51 Uhr“ erweist sich als Illusion. Als ich mit allen Prozeduren des US-System fertig bin (Schlange stehen und warten bei der Gepäckausgabe; Schlange stehen und warten vor der Passkontrolle; Schlange stehen und warten vor der Gepäck-Neuaufgabe; Schlange stehen und warten vor dem Bodycheck), steht das Signal schon auf „Boarding“, nur noch 20 Minuten bis zum Abflug, so dass ich mir ernstlich überlege, ob ich mir Zeit zum Pinkeln bleibt. Ich nehme sie mir und bin doch noch rechtzeitig. Die Gepäck-Neuaufgabe war sehr seltsam: Man gibt seinen Koffer auf ein Band, das ihn in einen großen Metalldetektor befördert und nicht wieder ausspuckt. Irgendwie wandert er „unterirdisch“ weiter.

Auf dem dreistündigen Flug nach Guatemala saß rechts von mir ein sehr gesprächiger, netter 45er (mit einem nicht immer leicht verständlichen Englisch) und links ein kalifornischer, Informatiker mit gepflegtem Englisch, der sogar vier Jahre Deutsch gelernt hatte. Relativ ausgeruht kam ich kurz vor 19 Uhr Ortszeit in La Aurora, dem Flughafen von Guatemala City an. Natürlich war es, wie in den Tropen um diese Zeit normal, schon dunkel, so dass ich von oben die Ausmaße der Stadt erahnen konnte: ein Lichtermeer von unter mir bis zu Horizont. Zivilisation eben. Warum stört mich dieser Energieverbrauch hier, der in Deutschland dazu gehört? Vermutlich eine Art romantisches Vorurteil Entwicklungsländern gegenüber, dass die es vielleicht besser machen könnten. Ganz klar: Unsinn.

Vor der Einreise nach Guatemala gibt es noch ein (vergleichsweise) kleines Hindernis, auf das mich Alistair schon vorbereitet hatte: Ich muss ein elektronisches Formular ausfüllen. Zum Glück kommt mir eine uniformierte Guatemaltekin zur Hilfe, so dass ich schon fünf Minuten draußen warte, bevor Alistairs alter, roter Jeep auftaucht.

Angekommen

Endlich sind zu dritt, Alistair, Lucia und ich. Die beiden fahren mit mir in ein kleines Restaurant, vor dem wir bei gefühlten 20 Grad an einem kleinen Tisch getoastete Tortillas mit diversen Auflagen bestellten. Lecker und noch nie gegessen, sozusagen guatemaltekische Tapas. Erst als mich Alistair auf die riesigen, blühenden Pflanzen an der Seitenwand eines angrenzenden Gebäudes aufmerksam macht, begreife ich: Die sind echt, ich hatte sie mit meinem deutschen Blick für künstlich gehalten, denn so große Blumen gibt es doch gar nicht. Doch, gibt es. Na ja, ich bin noch ziemlich vom Flug „betäubt“, wohl auch vom Zeitunterschied, obwohl ich mich gut fühle.