Zufriedene Menschen haben keinen guten Ruf. Sie gelten bestenfalls als naiv, schlimmstenfalls als dumm. Zufrieden sind Tiere in Käfighaltung, die es nicht besser wissen, zufrieden sind aber auch freilebende Tiere in einer relativ unbedrohten Natur. Zufrieden sind Geisteskranke und Säuglinge an der Mutterbrust.
Eine schauerliche Beschreibung von Zufriedenheit liefert Wikipedia: „Die Zufriedenheit tritt im Leben nicht automatisch ein, sondern sie muss sich in der ständigen Auseinandersetzung mit der Unzufriedenheit behaupten.“ Mit anderen Worten: Es gibt keine grundsätzlich zufriedenen Menschen (es sei denn die Unzurechnungsfähigen). Unzufriedenheit ist also der vorherrschende Seinszustand.
Ist Zufriedenheit weiblich?
Tatsächlich habe ich schon eine Reihe zufriedener Menschen kennengelernt: meine Großmutter zum Beispiel, die aus Schlesien vertrieben war und doch in eine geradezu provokative Zufriedenheit fand; zwei alte österreichische Sennerinnen, die sich von einem 14-Stunden-Arbeitstag nicht aus der Ruhe bringen ließen; eine junge Mutter, obwohl der Erzeuger sich weigerte, die Vaterrolle zu übernehmen; ein schottischer Landwirt, der seine Heimat nie verlassen hatte und mit 16 Arbeitsstunden einverstanden war – am Sonntag genehmigte er sich zwei, drei Stunden weniger. Würde ich mir das Gedächtnis ein wenig mehr zermartern, fände ich sicherlich einige zufriedene Menschen mehr. Auffällig an meiner zufälligen Zusammenstellung ist die weibliche Häufung.
Zufriedenheit, nicht Befriedigung
Eins sei grundsätzlich angemerkt: Zufriedenheit darf nicht verwechselt werden mit Befriedigung. Nun geht es mir hier gar nicht um eine genauere Betrachtung der Zufriedenheit, sondern mehr um die Konsequenzen von Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit. Der Frieden bildet nicht umsonst den Kern des Wortes Zufriedenheit. Frieden ist keine kurzfristige Situation, sondern ein anhaltender Zustand. Zufriedene Menschen sind tendenziell friedliche Menschen. Sie lieben fröhliche oder auch stille Geselligkeit, den Kreis der Familie oder von Freunden. Konflikte hingegen meiden zufriedene Menschen tunlichst; lieber beschäftigen sie sich damit, den Zustand ihrer inneren Ruhe auszugestalten und das vorhandene Gute zu ergänzen und auszubauen. Streitlustigen gehen sie aus dem Weg oder sie wenden sich von ihnen ab.
Das Bewusstsein der Lücke
Streit ist dem Zufriedenen ein fremder und befremdlicher Zustand. Wird der Zufriedene zum Streit gezwungen, dann kann er zwar hart kämpfen, aber er kämpft nicht um Sieg, sondern um die Wiederherstellung der Zufriedenheit. Man könnte geradezu sagen: Im Kampf zwischen bedrohten Zufriedenen und bedrohenden Unzufriedenen kämpfen beide Parteien aneinander vorbei. Weil der Unzufriedene sich Zufriedenheit wünscht, jagt er ihr hinterher und versucht, sie zu erzwingen. Der mentale Grundzustand des Unzufriedenen ist das Bewusstsein einer unerklärlichen Lücke, die er ständig zu füllen versucht. Dem Zufriedenen ist dieser mentale Grundzustand fremd.
Bedeutungsfelder
Über Zufriedenheit und ihr Gegenteil habe ich bisher nur auf der individuellen Ebene gesprochen. Übergangsweise kann man sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn eine ganze Gruppe von Zufriedenen zusammenlebt. Dabei entstehen Bedeutungsfelder wie Beistand, Glück, Harmonie, Heimat, Vertrauen und Frieden, allesamt mit dem Verdacht kritikloser Naivität belastet. Andererseits kann man sich die Folgen ausmalen, wenn eine Gruppe von Unzufriedenen zusammenkommt. Dabei werden Streit entstehen, Auseinandersetzung, Dominanz, Hierarchie, Gewalt und Krieg.
Brutstätte der Unzufriedenheit
Eine Steigerungsform einer solchen dissonanten Situation entsteht, wenn man die Unzufriedenheit zur Grundlage einer Gesellschaftsordnung macht; und wenn sich diese Gesellschaftsordnung einer Wirtschaftsordnung unterwirft, in der es kein Genug gibt, sondern es immer mehr und besser und größer und bequemer werden muss. Die vom kapitalistischen Wirtschaftssystem gezauberte Konsumgesellschaft ist eine Brutstätte der Unzufriedenheit sowie Entfremdung und damit latent gewalttätig. Der Strom der immer neu geweckten Wünsche treibt das Konsumrad an, das so lange in Schwung bleibt, solange es nur zu einer kurzfristigen Befriedigung kommt und keine dauerhafte Zufriedenheit entsteht.
Reizorientiert, fremdbestimmt und krank
Der Drang nach immer mehr erzeugt eine permanente Unzufriedenheit, seelisches Leid und eine Grundstimmung der Friedlosigkeit, wenn nicht der Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft. So zurechtgetrimmte Menschen leben reizorientiert und ohne inneres Fundament, sind auf eine geradezu lustvolle Art und Weise fremdgesteuert und deshalb leicht zu (ver)führen. Da dieser „konsumistische Formungsprozess“ in immer jüngeren Jahren beginnt und in seinen Konsequenzen nur von wenigen Eltern durchschaut wird, setzt auch die Anspruchshaltung gegenüber den Lebensumständen immer früher ein. Unzufriedenheit stellt sich schon in der Grundschule ein, wenn nicht bereits im Kindergarten. Einher gehen damit entgleisende kindliche Seelen und gestörte Familien und Beziehungen.