6. November 2023

Lustige Gedanken gehen mir durch den Kopf:

Ob die Menschenopfer, die die Azteken der Sonne darbrachten, wirklich wirkungslos waren? Die Sonne und ihre Planeten und Monde allein sind so ein unfassbar großes System, dass wir kleine Ursachen darin weder erkennen noch beurteilen können. Die Wirkungslosigkeit der aztekischen Opfer ist also letztlich auch ein Glaubenssatz aus der Wissenschaftsreligion.

Jeder Morgen hier ist von einem ganzen Chor von Hahnenkrähen begleitet. Aber warum krähen die Hähne nicht erst bei Tagesanbruch, sondern schon weit davor? Kann es sein, dass die Sonne nicht mehr aufginge, wenn der letzte Hahn seinen Morgenruf eingestellt hätte? Können wir das beurteilen? Wenn also die Hahnenschreie die Erdrotation beeinflussten? Hat das schon mal jemand untersucht? Welcher Wissenschaftler könnte so eine Frage stellen, ohne sich lächerlich zu machen? Denn warum krähen Hähne zum Tagesanbruch überhaupt? Was für eine sinnlose Energieverschwendung. Oder eben doch nicht?

Hab mir heute eine Ananas gekauft, aber noch nicht angebrochen, wohl erst morgen. Also kann ich mich 24 Stunden drauf freuen.

Hab heute ein Hemd erstanden (absichtlich wenig Kleidungsstücke von zu Hause mitgenommen, eine Art Unterstützung der lokalen Ökonomie). Wieder ist mir aufgefallen, dass die Leute hier gerne einen persönlichen Zugang suchen. Der Verkäufer fragt, wie man heißt und nennt auch seinen Namen. Meiner hieß heute Rafael. Ich bin danach zweimal bei ihm vorbeigegangen, und zweimal erklang ein „Hola, Bobby!“.

Die letzten hundert Meter meines Weges „nach Hause“ gleichen von der Bodenbeschaffenheit einem Gebirgswanderweg. Wanderschuhe wären dafür ideal, was unter den Umständen natürlich Quatsch ist. Manchmal befürchte ich umzuknicken, was bei meinem rechten Fußgelenk ja relativ rasch passiert. Mit solchen Gedanken auf dem Heimweg kam mir (vielleicht) eine Einsicht: Vorausschau ist die Mutter der Achtsamkeit. Will ich möglichst achtsam auftreten, so geschieht es doch ganz leicht, dass ich trotzdem einen unpassenden Schritt tue. Offenbar liegt das an der Gleichzeitigkeit von Bewusstheit und Schritt. Lenke ich hingegen meine Aufmerksamkeit einen Schritt voraus und folge ihr mit meinen Beinen, dann geht das ganz mühelos. Kling banal, ist’s aber nicht.

Meine ersten zwei Spanischstunden bei Rebeca waren mir ein Genuss, spanisch Tieftauchen. In meinem mehr als dürftigen Gedächtnis bleiben zwar viel weniger Vokabeln hängen als bei anderen Leuten, aber es macht einfach Spaß, eine andere Sprachwelt und zu erleben. Rebeca erinnert mich ein wenig an meinen Schwiegersohn aus Bolivien. Sie spricht super Englisch – die Grundlage meines Unterrichts – ist aber mindestens zur Hälfte Indigene und kleidet sich auch so (viele Frauen kleiden sich hier sehr bunt und traditionell, auch junge Mädchen, die Männer kaum. Was sagt uns das?). Na ja, ich werde sicher noch viel mehr von ihr erfahren.

7. November

Heute hatte ich meine zweite Spanisch-Doppelstunde. Davor war ich schon fleißig und auf den DIN-A-5-Block, den ich mir vorgestern (?) gekauft habe, ein Vokabelheft angelegt und feinsäuberlich alle Notizen, die ich mir gestern gemacht habe, eingetragen, immerhin fünf Seiten. Jetzt muss ich’s nur noch lernen bzw. wissen. Na ja, ein bisschen bleibt ja schon immer hängen. Ungefähr ein Drittel unseres Gesprächs führt Rebeca in einem langsamen, klaren Spanisch, wovon ich tatsächlich schon viel verstehe. Sobald die Fragezeichen in meinen Augen überhandnehmen (was sie öfters zum Lachen bringt, sie ist 34), probiert sie’s anders und wenn das auch nicht klappt, dann eben auf Englisch.

Ich hatte mich über ihren Namen Rebeca gewundert. Sie meinte, bis vor kurzem war sie die Einzige dieses Namens in San Marcos, jetzt gebe es noch ein Baby. Es hatte genügt, nach Rebeca zu fragen, um sie zu finden. Sie ist hundertprozentig indigen, ihr Vater ist schon gestorben, ihr ältester Bruder auch sowie eine Schwester. So sind „nur noch“ acht Geschwister übrig, deren jüngste sie ist.

I was raised by my eldest sister, erzählt sie, she also paid for my school and part of my study. Sie sei 11 Jahre älter als sie und habe bei ihrer Geburt die Verantwortung für sie übernommen und ihr den Namen gegeben. My mother was already very tired then. My sister said: You must go to school. Damals lebte ihre Familie auf der anderen Seite des Sees in einer kleinen Stadt, die in die Bürgerkriegswirren (internal wars) verwickelt war. Ihr Schwester-Mutter hatte damals una amiga muy muy buena, die aber im Verlauf der Kampfhandlungen erschossen wurde. Sie hieß Rebeca.

Meine Spanischlehrerin ist die einzige der acht Geschwister mit einer vollständigen Schulausbildung und sogar einem Lehramtsstudium. Sie findet es großartig, dass so viele Fremde neue Inspirationen ins Land bringen. Das habe sehr viel geändert. In ihrer Kindheit wäre ihre jetzige Laufbahn noch undenkbar gewesen. There was so much machismo. What a father said, was the law. Now it’s not like that anymore. Ha cambiado mucho. Es hat sich sehr viel geändert.

Was die Indigenen von den vielen Einflüssen vor allem gelernt haben, erzählte sie, ist eine bessere Ernährung. Früher – noch vor dreißig, vierzig Jahren – wollte niemand Wasser trinken. They said it’s bad for your stomach although we have wonderful pure water from the mountains. Entonces toman café, todo el dia, incluso los niños. Ich kann es kaum fassen. Und sie erzählt weiter: Our main dish then was tortillas. We ate them with everything, bananas with tortillas, potatoes with tortillas, rice with tortillas. We hardly ate any vegetables and little fruit, just tortillas. We didn’t even know papaya. So many people died from malnutrition. Like my big brother. He ate traditionally and died from it.

Nach dem Spanisch-Unterricht hab’ ich mir eine halbe Ananas aufgeschnitten und in kleine Happen zerlegt. Mucho köstlich! Aber ich hab’s nicht geschafft, nach drei Viertel der Menge war ich satt. Inzwischen ist es 18.26 Uhr. Die Grillen konzertieren heute Abend noch verrückter als die vergangenen Abende – vielleicht, weil es heute durchgehend schön war – und so langsam überkam mich der Hunger. Ach, muss eigentlich nicht sein, schreib lieber weiter, dachte ich, und ging rein, um mir ’nen Tee zu machen. Dabei fiel mein Blick auf einen Brocken regionalen Kakao, eine hochverdichtete Masse, die, wenn man sie zerschneidet, bröckelig wird. Na, das wär doch was, jetzt ’nen leckeren, heißen Kakao! Ich war mir nur unsicher, wie ich ihn zubereite, denn das Kakaopulver in Deutschland rührt man ja erst mal kalt an. Mit dem Kakao hier erschien mir das unmöglich. Als hab’ ich von dem halben Pfund ca. ein Fünftel abgeschnitten, gebröselt und in die Milch, die ich aufgesetzt hatte, eingerührt. Zum Glück gab’s einen großen Schneebesen, allerdings ohne Griff, aber es ging auch so. Nachdem dieser Kakao aber ungezuckert ist, schien mir eine kleine Zuckerzugabe wünschenswert, aber ich hatte vergessen, mir welchen zu besorgen. Just in dem Augenblick hörte ich Gideon die Treppe hochstapfen (er geht mit einem seltsam schweren Schritt). Ich also ihm nach, und siehe da, in seinem Küchentrakt gab’s noch Restzucker, den er weder benutzt noch braucht. You can keep it, Bobby. Thank’s a lot. Und so kommt es, dass ich diesen ganzen Absatz getippt und zwischendurch immer mal an meiner Kakaotasse genippt habe. Sehr köstlich. Und sättigend. Dazu gibt’s zwei Butterkeks (ohne Butter und ohne Zucker, trotzdem wohlschmeckend.) – Grade irrt ein Nachtfalter vor meinem Bildschirm rum und versteht die Welt nicht mehr.

Weiter geht’s mit meinem Milena-Projekt.