Vom Christentum mag man halten, was man will, aber es hat Sätze geprägt, die bleiben. Dazu gehört für mich unbedingt der Satz: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Der lässt sich zum besseren Verständnis in sein Gegenteil wenden: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder angetan habt, das habt ihr mir angetan.“

Ein paar Fragen vorneweg: Hätte es ohne diesen Satz die Französische Revolution gegeben? Oder die russische Oktoberrevolution? Wäre ohne ihn der Kommunismus entstanden oder der gelegentliche Heldenmut von Menschen, die Juden vor dem Holocaust retteten? Hätte es die Arbeiterbewegung, die Frauenrechtsbewegung, die Eine-Welt-Bewegung gegeben? Wären Gewerkschaften gegründet worden? Und: Warum verliert heute die Gewerkschaftsbewegung zunehmend an Bedeutung? Weil es die „Geringsten der Brüder“ nicht mehr gibt?

Der Satz hat einen moralischen Standard gesetzt. An den mag sich zwar keiner der modernen Mächtigen mehr erinnern, aber NOCH gilt er. Also vergnüge man sich mit der Vorstellung, es gäbe eine „Geringsten-Partei“. Für wen müsste sie sich engagieren? Ein paar Vorschläge: Um die Obdachlosen, um die Straßenkinder? Um die Einsamen auf Intensivstationen, um die in Pflegeheimen verkümmernden Demenzpatienten? Um die Alleinerziehenden, um die Psychiatriepatienten, um die Menschen, die sich vergeblich um die Anerkennung ihrer Berufskrankheit bemühen? Um die Geschlagenen und Vergewaltigten? Um die Landlosen und Zeitarbeiter, um die Sklavenarbeiter/innen für die Konsumgüterindustrie? Um die in engen Zimmern eingepferchten Arbeitsmigrant/innen und die im Winter Frierenden? Um die Hungernden und Verhungernden überall auf der Welt?

Die „Geringsten-Partei“ – es könnte nicht anders sein – wäre eine internationale Partei. Sie würde nur einen Satz aus dem deutschen Grundgesetz zu ihrem Slogan machen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und sie würde (!) nicht mit sich diskutieren lassen, dass Entwürdigung kein objektiv definierbarer Begriff ist, sondern eine individuelle Erfahrung, etwa die der Herabsetzung oder Demütigung oder eines Gefühls von Hilflosigkeit und Verlassenheit. Sie würde den Satz „Was ihr dem geringsten meiner Brüder angetan habt, das habt ihr mir angetan“ zum Prüfstein einer Demokratie machen, die dieses Namens würdig ist. Und sie würde den Begriff des Pflichtanwalts durch den des Ehrenanwalts ersetzen und diesem das gleiche Honorar zubilligen wie seinem Kontrahenten. Vermutlich gäbe es in der Geringsten-Partei auch laute Stimmen, die die reichsten 100 der Welt zugunsten eines großzügigen Grundeinkommens enteignen würden. Damit wäre dann nämlich für die Gerechtigkeit ein kleiner, aber feiner Anfang gemacht.

Aber zurück aus der Utopie in die Wirklichkeit mit der Frage: Wer sind wir, wenn Jesu Satz nur mehr Zierrat für Sonntagspredigten ist? Ja wirklich: Wer sind wir dann? Auf welchem moralischen Grund stehen wir? Gibt es überhaupt noch einen moralischen Grund? Oder versinken wir nicht längst in einem moralischen Morast?

Und ein klein wenig der Wirklichkeit angepasst, müsste sich Jesu Satz nicht mehr nur auf Menschen beziehen, sondern auf die gesamte Mitwelt, auf Insekten beispielsweise oder das mangels Humuseintrag absterbende Bodenleben. Das hat nämlich mit den Geringsten den größten Nenner gemeinsam: Es ist unsichtbar.