Am 9. Mai, zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl, habe ich mir überlegt: Wie würde sie heute ihrem Gewissen folgen?

Und, so unfassbar es auch in meinen Ohren (zunächst) klingt: Wir müssen die Verbrechen der Nazis relativieren. Nicht um sie zu verharmlosen, sondern damit wir sie nicht für das Nonplusultra halten. Es geht noch mehr. Und wir alle machen mit.

Ich spreche vom Tod durch Hunger. Spätestens hier bitte ich euch, dran zu bleiben und nicht zu sagen: Das kann ich nicht hören. Denn damit begebt ihr euch auf das Niveau jener, die 1944 sagten: Ja, ja, es werden Juden vergast, aber ich mag es nicht mehr hören.

Also zu den Fakten: Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. Das sind 8.640 tote Kinder täglich, 259.200 tote Kinder im Monat und 3.110.400 tote Kinder im Jahr. Über drei Millionen Kinder sterben jährlich an Hunger (von den erwachsenen Hungertoten ganz zu schweigen). Sie hungern nicht, nein, sie verhungern. Dem gingen Jahre täglichen Leids voraus – auch der Mütter, die mitansehen mussten, wie ihre Kinder starben, während im Westen die Zahl der Adipositas-Fälle Seuchencharakter annahm.

Diese Zahlen habe nicht ich erfunden, es sind die offiziellen Zahlen der Deutschen Welthungerhilfe. Man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber streiten wir uns nicht um ein paar hundert oder tausend hungertote Kinder mehr oder weniger. Mit anderen Worten: Alle zwei Jahre sterben mehr Kinder weltweit an Hunger als Menschen in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.

Und was tun wir dagegen? Ich meine nicht dich und mich. Denn du und ich, wir spenden vielleicht gelegentlich den einen oder anderen Tropfen, der dann im Süden auf irgendeinen heißen Stein fällt. Nein, die Frage lautet: Was tun wir als Gesellschaft dagegen, mit welchen Strukturen sorgen wir dafür, dass dieses himmelschreiende Unrecht aufhört?

Würden wir den absehbaren Tod dieser Millionen Kinder auch nur halbwegs ernstnehmen, dann müssten wir zum Beispiel die Hälfte der Subventionen, die der deutsche Staat der Wirtschaft schenkt, für die nachhaltige Beseitigung des Hungers verwenden. Das wären immerhin rund 25 Milliarden Euro jährlich.

Warum tun wir das nicht? Weil uns die Millionen an Hunger sterbenden Kinder letzten Endes egal sind?

Warum ist keine ersthafte Anstrengung der Bundesrepublik Deutschland, geschweige denn der EU, in dieser Hinsicht erkennbar? Sophie, wo bist du?

P.S. Nur um das klarzumachen:

Der Massenmord der Nazis gehört für mich zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheit und ist durch seine gezielte Planung, bürokratische Umsetzung und perfide Perfektionierung sowie die weitgehende Duldung durch die Mehrheit der Deutschen ein historisch einzigartiges Muster menschlicher Verirrung.

Leider sind wir dabei, dieses Verbrechen zu toppen.