Von Fliegen und Gänseblümchen

Die meisten Menschen, die ich kenne, töten ungern Fliegen. Und sie treten ungern gezielt auf ein Gänseblümchen, das eben aus dem Gras sein Köpfchen erhebt. Warum ist das so? Warum steigt unsere Tötungshemmung mit der zunehmenden Unschuld des potenziellen Opfers? Warum gilt es als Kriegsverbrechen, Kinder zu töten, nicht aber deren Väter? (Gibt es denn wirklich eine Trennung zwischen Eltern und Kindern außer die in unserem Kopf?)

Ich nehme an, die Glücksvermutung ist der tiefere Grund für diesen gemeinsamen Nenner. Mit Glücksvermutung meine ich, dass wir wissen oder wenigstens doch ahnen, dass alles, was lebt, glücklich sein, heil sein will, du, die Fliege und das Gänseblümchen, wir. Alles will sein in ihm angelegtes Potenzial ungehindert verwirklichen können. Und weil wir das ahnen, deshalb töten wir nicht gern, sofern wir seelisch gesund sind. (Ja, ich weiß: Der Ausdruck „seelisch gesund“ ist problematisch, nur steht mir kein passenderer zur Verfügung.)

Nun gibt es aber auch andere Formen des Tötens, über die wir nur selten nachdenken. Ich will sie mal unter dem Begriff „Besudeln“ zusammenfassen. Das Gänseblümchen oder das Kind mit Schmutz zu bewerfen, erscheint uns zwar nicht gleich falsch wie das Töten, aber doch auf einer anderen Ebene vergleichbar. Etwas zu beschmutzen ist so viel wie ihm die Würde nehmen, ein äußerlicher und innerlicher Angriff zugleich. „Besudeln“ ist also auch ein Angriff auf die Glücksvermutung; ein besudeltes Wesen ist ein entstelltes Wesen. Möglicherweise ist die Entstellung wegen ihrer längeren oder sogar permanenten Dauer der Tötung an Gewicht ähnlich.

Wie auch immer. Es genügt, die Zusammenhänge zu sehen. Nun ist aber der Wunsch nach Glück kein zeitlich eingeschränkter; vielmehr bezieht er sich auf die gesamte Lebenszeit, sprich: Ich kann nicht jemanden töten und danach ist er wieder ganz, und ich kann nicht ein Wesen besudeln und danach ist es wieder so würdevoll wie zuvor. Der Schmutz bleibt im Täter wie im Opfer, auch wenn er wieder abgewaschen wurde. So gesehen bedeutet aber jede Besudelung des anderen, jede Schmähung, jeder Hohn, jedes Lächerlichmachen, jede Erpressung und Erniedrigung einen Angriff auf die Glücksvermutung, deine, seine, ihre, unsere. Womit nur noch eines übrig bleibt, womit vielleicht alles beginnt: Auch mir muss ich diese Glücksvermutung zugestehen, auch etwas in mir will glücklich und heil sein. Deshalb sollte ich nicht nur andere, sondern auch mich – wenigstens – so respektieren wie die Fliege oder das Gänseblümchen.