Gedanken zum Unterschied zwischen Schoki-Leserinnen und Nährwert-Leserinnen

So wie es zwei unterschiedliche Arten von Literatur gibt, gibt es auch – mindestens – zwei unterschiedliche Arten von Leserinnen. Die eine Art von Literatur will vor allem gekauft sein. Für einige Verlage ist sie das Grundnahrungsmittel, für viele Verlage das einzige Nahrungsmittel. Die zweite Art von Literatur ist die mit gesteigertem Nährwert. Wenige Verlage bieten sie ausschließlich an, meist im Sachbuchbereich, und finden auch damit ihre Leserschaft. Sie haben es nicht leicht, deswegen gilt ihnen mein größter Respekt.

Gefahr eines mentalen Diabetes

Die Kauf-Literatur ist sozusagen Schoki fürs Gehirn. Kaum lässt die Zuckerspitze im Blut nach, möchte man mehr. Solche Art von kohlenhydratgesättigter Lesekost gibt es in dünn und in dick, dünn in Form von Groschenromanen, dick in Form von Serienliteratur. Und damit das auch gesagt sei: Bei der geistigen Schoki-Kost gibt es neben den gemeinen Billigrezepturen auch anspruchsvolle Kompositionen mit Mandel, Nougat und Marzipan, bei denen man sogar mitdenken muss. Dennoch: Die Gefahr eines mentalen Diabetes ist hoch.

Parallel zu dieser suchterzeugenden und suchtbefriedigenden Lesekost gibt es den entsprechenden Lesertypus. Ja, ist mir klar: Es gibt nicht DIE Leserin, aber zu analytischen Zwecken ist ihre Konstruktion hilfreich. Diese artifizielle Leserin ist die Suchtleserin. Sie liest, um zu vergessen: ihre Probleme, den Stress im Hamsterrad, die Beziehungsprobleme, die Selbstzweifel, am besten die Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte oder sollte. Nicht umsonst sagt man von der Suchtleserin, sie „verschlinge“ ein Buch. Auf mentaler Ebene verhält sie sich ganz ähnlich wie jene Gasthausbesucherinnen, denen das Schnitzel gar nicht weit genug über den Tellerrand hängen kann. Es geht darum, sich den geistigen Magen vollzuschlagen. Für zwei Wochen Urlaub nimmt sie sich zwei „dicke Schinken“ mit, mindestens.

Die Lust an der Horizonterweiterung

Auch Nährwert-Leserinnen sind oft Getriebene, das haben sie mit den Schoki-Leserinnen gemeinsam. Nur ist es bei ihnen die Lust an der Horizonterweiterung, vergleichbar mit der Belohnung beim Bergwandern, wenn man vor einem unvermuteten Ausblick steht, die Schönheit der Welt bewundernd, vor einem überraschenden, gelegentlich unvorstellbar weiten Horizont, den man erst begreift, wenn man ihn gesehen hat. Auch das ist ein Kick, aber einer, der vom Schocki-Kick so weit entfernt ist wie die Quantenmechanik von der Schulphysik. Der geistige Nährwert kann unmittelbar spürbar, erlebbar werden. Aber auch wenn dies nicht geschieht, so weiß man inzwischen, dass tägliches Lesen und ein intellektueller Austausch darüber Leserinnen vor neurologischen Erkrankungen schützen kann, so eine neue Studie der WHO – was für eine Motivationsspritze, sind doch neurologische Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in der modernen Leistungsgesellschaft.

Spurenelementen folgen

Versorgt und angereichert mit neuen mentalen Mineralstoffen und Vitaminen schafft unsere Nährwert-Leserin den nächsten, steileren Aufstieg. Und vor allem: Mit jeder neuen Lektüre stößt sie auf intelligente Spurenelemente, denen sich zu folgen vielleicht lohnt. Spätestens dann wird aus dem Lesen ein Fährtenlesen in doppelter Hinsicht. Einmal sind da Fährten von Tieren, die sie kennt und die sie auf diesem Terrain nicht vermutet hätte. Dann wird die Verbindung von Vertrautem und Neuem zum Erlebnis. Als noch spannender erweisen sich die Spuren unbekannter, möglicherweise endemischer Tierarten. Sie bei mühsamen Auf- und Abstiegen durch intellektuell schwieriges Gelände in ihrem Lebensraum zu beobachten und Rückschlüsse oder Verbindungen zu Bekanntem zu ziehen, ist der Nährwert-Leserin ein ganz außerordentliches Vergnügen, für das sie die gelegentliche Erschöpfung der geistigen Muskulatur gerne in Kauf nimmt.

Zum erweiterten Horizont gehört übrigens auch die Erkenntnis einer grundlegenden Verwandtschaft mit der Schoki-Leserin: 99,9 Prozent ihrer Gene sind die gleichen. Das verbindet über alle Lektüre hinweg. Aber das eine Zehntel Prozent macht vielleicht doch einen Unterschied.