Ich kann’s nicht mehr hören. Egal, mit dem ich zu tun habe, alle finden Liebe „ganz wichtig“. Ich möchte behaupten, diese Meinung ist der gemeinsame Nenner der alternativen Szene, aber auch der konservativen, möglicherweise sogar der reaktionären. Man vergibt sich mit so einer Aussage nämlich nichts, im Gegenteil: Man verkündet sich selbst und seiner Umgebung, dass man ja ein liebevoller Mensch ist, eigentlich. Und das war’s dann auch.

Ganz viel wohlklingendes Blabla

Die Liebe „wichtig“ zu finden, ist von ähnlicher Relevanz wie die Diskussion über Außerirdische. In der Regel sind solche Sätze wohlklingendes Blabla. Sie erinnern mich an meine Jugendzeit, wo ich als katholischer Ministrant am Altar kniete und der Predigt des Priesters lauschte. Dann geschah es, dass wir – der Priester, der zweite Ministrant und ich – zum Ende der Messe bei brausenden Orgelklängen den Altar verließen und die Sakristei betraten. Kaum waren wir außer Hörweite, begann der Priester über diese oder jene Kirchgängerin herzuziehen, darüber, dass er oder sie schon lange nicht mehr zur Messe war, er oder sie ohne PartnerIn da war und was das wohl zu bedeuten habe, oder dass der Gesang heute doch sehr lahm oder der Organist schlecht war. Vorbei war die edle Gesinnung, vorbei die hohen Worte, ersetzt durch hohle Worte, durch das allgemeine Gassen- oder gar Gossenbewusstsein.

Die Sehnsucht, liebend aktiv zu werden

Der vielleicht wichtigste Grund für die Belanglosigkeit allgemeiner Liebesbeteuerungen ist das Wort „Liebe“ selbst. Mit diesem moralisch hochtrabenden Begriff können wir nur selten etwas anfangen. Er klingt metallen, nach einem Pferdegeschirr, das man uns anlegen will, klingt eher nach einer Forderung als einem Zustand, ohne Wärme und Zärtlichkeit. Die muss man sich dann schon dazudenken. Einen Geschmack von dem, was ich meine, bekommt mensch beim Vergleich der folgender: „Wir haben uns geliebt“ und „wir haben Liebe gemacht“. Ein Kleid kann ich mir machen lassen oder ich kann Essen machen, aber Liebe? Das erniedrigt sie zur Funktion. Um den Gehalt der Liebe näher zu kommen, wäre zunächst das allgemein übliche „Bekenntnis zur Liebe“ zu ersetzen durch „den Wunsch zu lieben“. Hinter so einem Wunsch steht nämlich ein tiefes Bedürfnis nach Verbundenheit; die Sehnsucht einer Person wird darin spürbar, ihr Wunsch, bei jeder Gelegenheit aktiv zu werden und das Lieben ernst zu nehmen, statt Sprüche zu klopfen; ihre Bereitschaft, sich ganz in den Dienst der Liebe zu stellen. Ganz.

Jedes Thema hat mit dem Lieben zu tun

Vielleicht scheuen wir auch deshalb davor, vom Lieben, statt von der Liebe zu sprechen, weil das Lieben ernst zu nehmen ein enormer Anspruch ist, ein Anspruch, den man nicht zwischen Tür und Angel einlösen kann, sondern entweder tut man es – oder man lässt es bleiben. Was ich meine, wird am ehesten verständlich bei der Erinnerung an eigene verliebte Tage und Wochen, als so vieles, ja vielleicht alles um mich herum mich an „sie“ erinnerte. Dann sah ich die Pflanzen vor meinem Fenster anders, weil wir zusammen im Park zwischen Pflanzen gesessen waren. Auf geheimnisvolle Weise erinnerten mich diese Pflanzen an „sie“, obwohl es doch ganz andere Pflanzen waren. Oder ich nahm eine Gabel in die Hand und sah schon ihre Hand eine Gabel nehmen. Bei Gesprächen mit Freunden war mir das Thema beinahe gleichgültig, denn irgendwie hatte jedes Thema mit „ihr“ zu tun. Ich schlief mit Gedanken an „sie“ ein und wachte mit dem Duft ihres Haars auf. Wenn ich das Lieben ernst nehme, ist es ganz ähnlich, nur eben umfassender. Lieben ist radikal universell.

Lieben heißt liebevoll umgehen mit der Welt

Als einer, der das Lieben ernst nimmt, schaue ich empathisch auf die Welt; nicht, weil es wertvoll ist, empathisch zu sein, sondern weil es mir wehtut, wenn der Geliebten Schmerzen zugefügt werden. Es ist ganz einfach zu verstehen. Wenn ich Kaffee trinke, dann möchte ich nicht, dass Kaffeepflückerinnen leiden, denn dann schmeckt mir der Kaffee nur halb so gut. Wenn ich mein Essen genieße, möchte ich nicht, dass Tiere dafür leiden oder sterben müssen. Und wenn ich ein Handy in die Hand nehme, dann möchte ich nicht, dass Kinder in Bergwerken seltene Erden ausgraben müssen. Oder dass die Natur rund ums Bergwerk verwüstet wird und Tausende fühlender Wesen sterben. Und der Ring an meinem Finger gewinnt an Wert, wenn bei seiner Goldgewinnung keine Flüsse mit Quecksilber verseucht wurden. Das Lieben ernst nehmen, heißt, liebevoll mit der Welt umzugehen. Jedenfalls: dazu auf eine selbstverständliche Weise bereit zu sein. Denn natürlich gelingt mir das nicht immer, letztlich viel zu wenig, wenn die Mühle des Alltags mich in die Mangel nimmt; aber bei jedem Innehalten ist es wie ein Auftauchen und Luftholen: dieses automatische Sichverbinden mit einer gütigen, heilsamen Energie.

Lieben lässt keine Ausnahmen zu

Und wie könnte es anders sein: Das Lieben ernst zu nehmen, beinhaltet auch, um den tiefen Wunsch zu wissen, der in jedem Menschen um mich herum verborgen ist und sich nur selten an die Oberfläche wagt: der Wunsch, geliebt zu sein. Denn als Erwachsene dürfen wir dieses Bedürfnis ja nicht äußern, wenn wir nicht unser Gesicht verlieren wollen. Auch LebenspartnerInnen gestehen sich diese Sehnsucht nur selten in aller Offenheit ein. Aber wäre es nicht genau das: das Lieben wirklich ernst zu nehmen? Und nicht nur in der Partnerin, in der Schwester oder im Freund, sondern auch in der Nachbarin, ganz gleich, wo sie mir begegnet, auf der Straße oder im Zug, im Büro, am Telefon oder im Internet. Auch im Feind – freilich auf eine ganz unromantische, realistische Weise, sozusagen als ein nüchternes, objektives Lieben. Aber werde ich sie oder ihn nicht ganz anders wahrnehmen, mit ihr oder ihm nicht ganz anders umgehen, wenn ich mit dem Lieben ernst mache? Denn wie könnte ich sagen, ich nehme das Lieben ernst, nur eben nicht bei dieser oder jener Person? Wie ernst zu nehmen wäre dann mein Ernstnehmen noch?

Sich lieben lernen: ein lebenslanger Prozess

Ähnlich inflationär wie die Behauptung, die Liebe sei „ganz wichtig“, ist deren reflexive Variante: „Ja, ja, zuerst muss man sich selbst lieben, bevor man die anderen lieben kann“, schallt es mir von überallher entgegen – bevor mensch sich wieder den wichtigen Dingen des Lebens zuwendet. Auch in diesem Fall scheitern wir am idealistischen Gehalt der Liebe bzw. Eigenliebe. Sie ist nichts, das wir irgendwann einmal „haben“ können. Vielmehr ist sich selbst lieben lernen ein lebenslanger Prozess in ständiger Wechselwirkung mit der Welt um uns, die uns oft seltsame Ansprüche auferlegt und uns fremdbestimmen oder fernsteuern will. Wer das Lieben zu sich selbst ernst nimmt, braucht ordentlich Boden unter den Füßen. Auch ganz wortwörtlich: Denn dazu gehört auch, seine Füße zu lieben, zu denen ganz banal die Zehennägel ebenso gehören wie die Hornhaut. Seine Hornhaut lieben – kann man das? Warum denn nicht! Es gibt noch eine Menge kleiner, unersprießlicher Punkte an meinem Leib, die zu lieben mir schwerfällt. Und wie steht es gar mit meinen Genitalien? Die sollte ich doch lieben können. Von meinen Wünschen, Gelüsten und Begierden, meinen Schatten und Untiefen habe ich da noch gar nicht gesprochen, denn schon meine Talente ernst zu nehmen und mich ihnen ganz zu widmen, klingt einfacher, als es ist.