Über die Künstler und die andern
Auszug von Peter Rühmkorf
(zu finden in: Sämtliche Werke 1/9 Essays und Monographien 1. Schriften zur Poetik, Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-5385-5)
Welche Kraft und Wucht und Wahrheit:
„Wir wenigen haben noch wilde Hirne, reissende, urwaldwilde Hirntiere. Keine gezähmten Mollusken, nicht diese Schneckenwesen mit
dem einzigen Vermögen, über den Frass und die Fortpflanzung zu meditieren.
So rücken wir aus in die Urlandschaften des Denkbaren, gehen auf Seilen über Abgründe der Unerklärbarkeit, vorbei an Fallgruben un-
berechenbarer und nicht zu deutender Zufälle.
Meine Damen und Herren !
Halten Sie sich weiter schadlos aneinander. Greifen Sie zu und geben Sie fort. Fleisch ist eine sehr flüchtige Verbindung. Alle Genüsse
durchhecheln, alle Befriedigungsskalen durchmessen.
Wir aber ziehen aus auf unsere Expeditionen bis vor Gottes Thron, auf Abenteuer in die Wüsten des Unbewussten. Um heimzukehren
mit der Beute der Bilder, mit unsern niegesehenen Denktrophäen, die wir Euch zum Betrachten vorlegen, die Ihr bestaunen mögt oder
begrinsen, nicht verstehend auf jeden Fall. Gaffer an Vulkanen und Geisirn, Schwätzer unter dem Donner oder neben dem Jaulen einer
verreckenden Kreatur. Wohl denen, die sich bescheiden dürfen, in Museen und Büchern, in Konzerten und Galerien zu erfahren, was
wir ausgruben, was wir eroberten, was uns befiel.
Wir haben die Höhle von Altamira ausgemalt, als Ihr nur Tiere mit Steinkeilen zu töten verstundet. Unsere Bilder werden Eure Mähler
und Bratendüfte überdauern. Wir haben an Tempeln gebaut, während Ihr Euch betrunken auf den Matten wälztet, wir formten die Figuren an Kathedralen und Domen, als Euch das Glück hochkam beim Kitzel Eurer traurigen Kopulationen.
So waren die Beschäftigungen verteilt. Ihr betätigtet Euch als Zwischenhändler und Kaufleute, als wir an den Fresken des Petersdomes sassen, während wir an der Bibel schrieben, begosst Ihr gerade den Rosenkohl in Euren Gärten. Einer von uns formulierte den kategorischen Imperativ. Als die Inspiration ihn befiel, wart Ihr gerade tanzen gegangen. In dem Augenblick, als Ihr dieses und jenes Geschäft abschlosset, schrieb einer von uns : Die Welt fängt im Menschen an. Wir sind für Euch ans Kreuz getreten. Ihr hieltet nur unsere Klamotten für Wertobjekte. Wir haben geschuftet, wir haben uns grossen selbstfresserischen Gedanken gestellt, für Euch bestanden wir die Gefahren im Vorfeld unserer Hirne. Wir haben uns für Euch gequält und unser Leben an den Nagel gehängt. Für Euch, weil Ihr keine Zeit hattet, weil Ihr anderweitig beschäftigt wart, weil Ihr Euch gerade um irgendwelche Ämter und Stellungen bewarbt.
Habt Ihr wenigstens Zeit, unsere Pietas zu betrachten ?
Wir legen vor : Die Geisselung Christi von Bosch, wir geben zur Einsicht die Gedanken des Sokrates, aufgezeichnet von Platon, wir legen
vor die Neunte Symphonie, den Don Quijote, die Matthäuspassion.
Ihr hört schon nicht mehr zu. Nun denn :
Pflegt Eure Zähne. Erzieht Eure Kinder im Glauben an ihre Zähne und Knochen. Vergesst nicht die Vitamine. Man macht zu leicht Fehler in Hinsicht auf einseitige Ernährung. Esst Rohkost, Fisch, Butter, Eier, überhaupt, esst gut und viel, habt Mut zum Leben, haltet Euer
Blut rein, haltet Euch aus Revolutionen raus, dann bestehen nämlich alle Aussichten, lange und herzhaft zu leben.“