„Mein Gott!“, rufen wir manchmal oder: „Oh mein Gott!“ Beinahe immer ist dann etwas geschehen, das besser nicht hätte geschehen sollen. Ein Kind musste sterben, einer Familie wurde Mutter oder Vater entrissen und Ähnliches. In meiner Kindheit gab es dazu noch synonyme Ausrufe: „Guter Gott! Darf das sein!“ oder „Gütiger Gott!“

Abgestumpft durch die Welt?

Dafür, dass solche Ausrufe veraltet sind, sehe ich zwei Gründe: Einerseits leben wir in derart verwöhnten Zeiten, dass wir uns schnell über alles hinwegtrösten können. Dass es uns an Erlebnistiefe mangelt, um wirklich entsetzt zu sein, bezweifle ich, eher gibt es angesichts der Unheilbotschaften aus aller Welt so viele Anlässe, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als abgestumpft durch die Welt zu stapfen. Andererseits leben wir in gottfernen Zeiten. „Wohin ist Gott? … ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“, hatte Nietzsche einst zum Entsetzen der meisten seiner Zeitgenossen geschrieben. Heute nehmen wir das achselzuckend hin, jedenfalls die meisten von uns. Auch ich mag an einen Christengott nicht mehr glauben. Aber wie steht es mit der Güte?

Die Welt des bayerischen „Ja mei“

Wem es nicht im Herzen wehtut, wenn einem stolzen Baum die Axt der westlichen Zivilisation in den Leib fährt und ihn in würdeloses Nutzholz verwandelt – ist der nicht herzlos? Und wie erst der, der die Entlassung seines Kollegen mit einem „So ist das Leben eben“ hinnimmt. Nein, so ist das Leben nicht! So ist das System, mit dem und in dem wir alle zu leben gezwungen sind. Und wie, wenn die nächsten Obdachlosen im kommenden Winter erfrieren? Das bayerische „Ja mei!“ ist zu einem Schlachtruf der Ohnmacht geworden, zum resignierten Ruf in einer Welt, in der sich die Habenden den Habenichtsen geringschätzig und kurzfristig zuwenden, um dann umso eiliger in den alles erlösenden Konsumtempel zurückzueilen. Wie anders könnten sie es hinnehmen, wenn der nächste Ukrainer zerfetzt und der nächste Russe zerrissen wird. Und wie können sie guten Gewissens in einem Meer schwimmen, das Tausenden von Flüchtlingen jährlich zum Grab wird? Gewiss nicht aus einer Haltung der Güte heraus.

Ein Kriterium für Politiker

Ein gütiger Gott, das wissen wir, wäre einer, der menschliche Schwächen annehmen kann, weil er das Gute im Menschen kennt und selbst in seinen schlimmsten Freveln erkennt, sogar in seinem Zustand chronischer Gütelosigkeit. Wir müssen nicht wie dieser Gott werden. Es würde schon genügen, wenn wir uns auf die Eigenschaft besännen, die uns bei tragischen Filmen schlucken lässt und vielleicht sogar Tränen in die Augen treibt. Wenn wir uns das Mitgefühl nicht austreiben ließen, weil das nicht zeitgemäß, nicht cool ist; wenn wir uns auf diese beste aller menschlichen Fähigkeiten zurückbesännen, wenn wir Politiker nicht an ihren ohnehin kaum überprüfbaren Wahlversprechen mäßen, sondern am Grad ihrer Empathiefähigkeit; wenn wir tatsächlich die Schwerter bzw. Atomwaffen zu Pflügen – zu Atommüll – umschmiedeten? Wenn wir unsere Spiegelneuronen nicht blind schalten würden.

Wie tanzt es sich gütig in der Disko? Wie geh ich gütig an einem Bettler vorüber? Wie kaufe ich gütig ein billiges T-Shirt, das von geschundenen Frauen an der mexikanischen Grenze stammt und wie Schokolade von Kindersklaven an der Elfenbeinküste? Wie kann ein gütiger Gemeinderat nicht den Etat fürs Frauenhaus erhöhen? Darf ein Bundeskanzler nicht gütig sein, sondern nur cool?

Auf den eigenen Idealen ausrutschen

Güte ist ein trefflicher, doch nie verwendeter Maßstab. Dabei kennen wir alle die Güte, fast alle. Wir haben sie immer wieder von unseren Eltern erfahren, wenn wir mal Mist gebaut haben – und wer hat das nicht? Und wer selbst Mutter oder Vater ist, der weiß, dass uns die Güte eine zuverlässige Helferin in schwierigen Situationen ist. Natürlich schaffen wir das oft nicht; unsere eigenen Wunschvorstellungen und Ideale sind Bananenschalen, auf denen wir allzu leicht ausrutschen. Aber wenn wir dann zu uns selbst gütig sind, dann folgt ein Aufatmen und ein neues Durchstarten. Auch für Partnerschaften und Freundschaften gilt das. Aber dann gibt es Freundschaften, die einem wegen Meinungsverschiedenheiten gekündigt werden. Als ob Freundschaften Kaufverträge wären mit 14-tägigem Rückgaberecht. Und natürlich gilt das auch gegenüber den eigenen Eltern und deren oftmals versagt habenden Güte.

Der Tauschwert der Güte

Ich bin überzeugt, dass wir sie alle gut kennen, die Güte; nur haben wir sie eben weggepackt, weil man sich dafür nichts kaufen kann. Kann man doch, würde ich behaupten. Denn Güte hat einen ganz besonderen Tauschwert, nämlich den der Dankbarkeit. Die empfinden wir gegenüber jemandem, der gütig zu uns war und ist, und die erhalten wir als unschätzbaren Gegenwert von allen, zu denen wir gut bzw. gütig waren und sind.

Güte lässt sich im Alltag üben. Wer wachsam ist, erkennt vielleicht die Not seines Hintermanns an der Ladenkasse, der es aus unbekannten Gründen eilig hat, und lässt ihn ausnahmsweise vor. Und der bemerkt den Ratlosen in der Fußgängerzone und fragt, ob er weiterhelfen kann. Kleine Beispiele, an und von denen wir Großes lernen können. Coolsein ist langweilig und mainstream, Coolsein ist nicht der Weg, Güte viel eher.