13. Dezember

Eben – um 18.35 Uhr – verspeise ich die Nachspeise meines lukullischen Nachmittags-/Abendessens: Gingerbread Rounds. Hätte ich nicht durch die Klarsichtpackung hindurch erspäht, worum es sich handelt, ich wäre nie drauf gekommen: Elisenlebkuchen. Sie schmecken mir ausgezeichnet und bescheren /beschwören Christmas Feelings. Erstanden hab ich sie im Lidl-SuperSupermarkt in Campos.

Dort bekam ich auch ne Packung Biotomaten (und mancherlei sonst), die sich bei meiner Heimfahrt im Kopf zu Tomatensalat mauserten, gekrönt von einem ziemlich vollkornigen Baguette-Brötchen aus dem hiesigen Spar Markt (wir hatten uns in den vergangenen Tagen schon mehrfach zugeblinzelt, ich meine diese Baguette-Brötchen und ich. Inzwischen ist das Ding in mich gewandert, der reinste Oralverkehr, so gut hat’s geschmeckt zum tatsächlich entstandenen Tomatensalat.

Nein, der Lidl-Besuch in Campos war nicht mein einziger und erster Ausflug mit meinem weißen Corsa, sondern der Abschluss. Vorher war ich am Cap Ses Selines, der Südspitze von Mallorca (rund 30 Minuten Autofahrt für rund 27 km), gegenüberliegend von Caprera, einer kleinen felsigen Insel, auf der möglicherweise Hannibal geboren wurde (wäre er in New York oder London geboren, er hätte es nie so weit gebracht). Vom Städtchen Ses Selines bis zum Cap waren es neun Kilometer in strahlendem Sonnenschein, und ich war allein auf der Straße. Sie endete kurz vor einer Leuchtturm-Anlage, wo dann doch noch ein paar Pkws herumstanden. Ich wollte mich eben aufmachen, das felsige, flache Ufer nach links zu begehen, als ein Mann um die 65 von rechts auf meinen Standpunkt zukam, nicht um mit mir zu sprechen, sondern zufällig. Nachdem ein Schild am Ende der Straße darauf hingewiesen hatte, dass vielerlei Zugvögel zwischen September und Dezember hier Halt machen, frage ich ihn, ob er Deutsch spreche (er sah so aus) und ob er Vögel gesehen habe. Es war ein Augsburger und Mallorca-Fan. Wenn’s geht, komme er dreimal im Jahr hierher. Aber nein, er habe hier keine Zugvögel gesehen, nur einen Wiedehopf. Wir plauderten ein Weilchen, dann ging ich nach links und er zu seinem Auto.

Eigentlich war’s nicht besonders romantisch (ich dachte, Mallorca sei romantisch, immer und überall!). Die Küste hatte vielleicht ein Gefälle von zwei Metern bis zur Brandung ca. zehn Meter rechts von meinem Pfad (bzw. dem, was einem Pfad durch die Steine, das Geröll und die Sandstreifen ein wenig ähnelte) und bestand überwiegend aus dunklem Gestein, in das die Jahrtausende kleine Mulden und Krater geschmirgelt hatte. Zum Glück hatte ich mich für meine Wanderschuhe entschieden, denn viele Felsen waren scharfkantig.

   

Und doch war’s romantisch, denn die See prallte lautstark gegen das felsige Ufer und die Stille, die Sonne stach fast ein wenig, so dass ich meinen Pulli mal aus- und bei der nächsten kühlen Brise wieder anzog. Auf dieser Seite des Leuchtturms war ich der einzige Mensch am Ufer. Rechts von mir konnte ich im blau blinkenden Wasser Fische vermuten, die Lebewesen links von mir waren Macchia-Büsche und wilde Oliven. Die See war glatt und wirkte dennoch rau, so als würde sie die Milliarden Sorgen der Menschen widerspiegeln und ans Ufer werfen wollen. Plötzlich fiel mein Blick auf einen Stein, der keiner war. Es war ein vielleicht 15 x 25 Zentimeter großes, verwittertes Zementstück mit einem Kreuz darauf. In den Felsblock daneben war ein E.B. geritzt. Vermutlich war hier ein E.B. tödlich verunglückt. Eigenartig, dass ich diesen kleinen „Stein“ unter tausend anderen gefunden hatte (oder er mich?).

   

Ich hatte keinen Plan, wie weit ich gehen wollte. Immer schien mir die nächste Biegung noch verlockender als die zuvor, so dass es wohl an die zwei Kilometer waren, ehe ich eine alte Hausruine erreichte, die knapp ans Wasser gebaut war. Davon angezogen umrundete ich sie, setzte mich daneben auf einen einladenden Stein und meditierte eine Weile. Wie eine mächtige schwarze Wand stand die Felsen von Caprera am Horizont in der mittäglichen Sonne. Die See klang wie ein mal laut, mal leise grollendes Gewitter; die Wellen überschlugen sich in perfekten, eineinhalb Meter hohen Bögen und rauschten gurgelnd und schäumend bis auf zwei Meter an meine Füße heran. Auch der Rückweg zum Leuchtturm war besinnlich, eher eine Gehmeditation.

   

Irgendwann wurde mir die Fragilität (und Fragwürdigkeit) meiner Existenz bewusst: Ich trug die ganze Zeit meine Umhängetasche über der Schuler, statt sie im Auto liegen gelassen zu haben. Wie irrational! Aber offenbar wollte ich alle Garanten meiner bürgerlichen Sicherheit bei mir haben (Pass, Geld, Scheckkarten, Führerschein, Handy). Dabei war ich doch auf dieser einsamen Wanderung viel ungeschützter als eine Tasche im Auto. Würde mich dort draußen jemand überfallen haben, dann hätte vielleicht irgendwann ein anderer Wanderer meine Leiche in der alten Ruine entdeckt – ohne Tasche natürlich.

Nach dem salinenfreien Cap ses Salines hab ich noch Colònia de Sant Jordi besucht (17,4 km, Luftlinie ca. 6 km in Richtung Sa Rapita) und bin drin und am Meer rumspaziert. Auch wieder ein kleines Städtchen (2.900 Einwochner), aber nichts Besonderes. Mein momentaner Eindruck hier im Süden der Insel: Die Orte ähneln sich doch sehr, manchmal gibt’s eine spektakuläre Villa, der Rest ist einfach ganz hübsch und ohne Touristen eher ausgestorben. Auf Campos (11.600 Einwohner) trifft das allerdings nicht zu. Das ist auch keine Stadt für Touristen, sondern für Einheimische. Deshalb gibt es dort auch Rossmann, Aldi und  – Lidl. Womit sich der Kreis schließt und die Zivilisation fröhliche Urständ feiert.

14. Dezember

Gestern habe ich eine einfache Lösung gefunden für eine Widrigkeit in meinem Alltag hier, tatsächlich so einfach, dass ich gar nicht glauben kann, dass ich nicht vorher drauf gekommen bin. Es ist nämlich so, dass mein Ladekabel nicht vom Esszimmertisch bis zur Steckdose neben dem Ofen reicht. Also hab ich den Laptop auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer geladen und konnte eben nur dort weiterarbeiten (wenn es mir nicht zu kalt war) oder in der Zwischenzeit etwas anderes tun. Gestern hatte ich die „Erleuchtung“, ging auf die Suche nach einem Verlängerungskabel und – voilà – das Problem war gelöst. (Ich vermute, ich gehöre zu den untechnischten Menschen auf diesem Planeten.)

Heute ist der erste Tag, an dem ich mein Alleinsein in (ziemlich) vollem Umfang wahrnehme, anerkenne und genieße. Es fühlt sich wie ein anderer Seinszustand an, wie fruchtbare Erde. Geist und Seele als Gartenerde.

Damit hängt es wohl auch zusammen, dass ich heute Morgen zwar – routinegerecht – meinen Günther Anders und Dostojewskij gelesen habe, mich aber die Lektüre immer wieder aufspringen und zum Laptop eilen ließ, weil mir entweder zu „Milena“ oder zur „Autobiografie“ eine Ergänzung eingefallen war. Ich glaube, ich habe in den ca. zwei Stunden selten länger als zehn Minuten durchgehend gelesen.

15. Dezember

Eben habe ich meine kleine Fitness-Wanderung im Sonnenschein gemacht: oben rum durch die Siedlung bis runter zum Strand, wo auch der größere Supermarkt ist, dort nen Espresso zu nem Keks getrunken und dann unten rum am Ufer entlang zurück, insgesamt so an die 2,5 km, nichts Besonderes, aber hält in Schwung. Immer, wenn ich hier vor die Tür trete und meinen ersten bewussten Atemzug tue, fällt mir das Aroma der Luft auf. Ja, Aroma. Die Luft riecht angenehm würzig, ein wenig nach Kräutern, nicht nach Meer und schon gar nicht nach Fisch. Unterwegs hab ich ein paar Olivenblätter abgestreift und in der Hoffnung zwischen den Fingern zerrieben, dass es sich vielleicht um den Duft von Olivenblättern handelt, aber das war’s nicht.

Gestern Nachmittag habe ich Annegret in Sa. Augustin besucht, einem westlichen Ortsteil von Palma. Sie wohnt in keinem hübschen, aber (immerhin) auch in keinem hässlichen Haus, am Hang gelegen im dritten Stock, so dass man von ihrem kleinen Balkon übers Meer bis zum Horizont blicken kann, sozusagen immer die Unendlichkeit vor Augen. Sie hatte ne Gemüsesuppe für uns gekocht, die ich gerne gegessen habe. Danach sind wir in den Ortsteil Santa Catalina gefahren, das Google ganz gut so beschreibt: „Das ehemalige Fischerviertel Santa Catalina ist ein angesagter Stadtteil rund um eine jahrhundertealte Markthalle mit Lebensmitteln aus der Region. In den begrünten Straßen mit farbenfrohen kleinen Häusern und Jugendstilvillen gibt es zahlreiche Designerboutiquen und Secondhandläden. Martini-Lounges und Musikcafés befinden sich hier neben rustikalen Kneipen, die ein alternatives Publikum anziehen. Die Plätze und schmalen Seitenstraßen sind von trendigen Restaurants gesäumt, in denen internationale Küche serviert wird.“ Stimmt, eine angenehme und gar nicht touristische Stimmung, weil ja fast keine Touristen da sind.

Und weil wir schon mal da waren, sind wir auch gleich zum Zentrum weitergelaufen, um mit der einsetzenden Nacht die Vorweihnachtsstimmung zu erleben. (Siehe die eingefügten Bilder.) Es war die Hölle los, ein enormer Lichterschmuck über ein paar Hauptstraßen und an manchen Fassaden, Tausende von Menschen unterwegs und auf einer Bühne wurde live Popmusik gemacht. Viele Menschen wirkten regelrecht erregt, überall wurde gelacht und Annegret vermutete irgendeinen Wettbewerb, weil eine Menge Männer und mehr noch Frauen mit Nikolausmützen herumliefen. An einer anderen Ecke sang ein Kinderchor fröhliche Lieder, an einer weiteren, vor einer Kirche postiert, ein Erwachsenenchor etwas Feierliches. Natürlich gab’s auch jede Menge Stände, aber, wie auch bei uns, selten mit etwas Bemerkenswertem im Angebot. Das für mich erstaunlichste Detail waren die festlich geschmückten und auch ordentlich besuchten Restauranttische im Freien. Das deutschsprachige Mallorca-Magazin gibt einen Überblick über den Rummel: https://www.mallorcamagazin.com/veranstaltungen/feste-freizeit-events/weihnachtsmarkte-auf-mallorca-2024.html.

Ich werde ein paar Bilder dazu hochladen. Ich hab’s gesehen und muss das kein zweite Mal haben. War aber doch sehenswert (aber nicht sehenswürdig). Zurück in Sa. Augustin haben wir uns ein nettes Restaurant gesucht und auch gefunden: die Osteria Casa Rosita, betrieben von einem älteren Italiener mit seiner mallorkinischen Frau. Ich hab Gnocchi mit einer wunderbaren, hausgemachten Gemüsesoße gegessen, ganz prima. Zu guter Letzt brachte ich Annegret nach Hause bzw. fast nach Hause. Wir sind noch in der Nähe ihrer Wohnung in einer britisch anmutenden Kneipe namens „The Ancor“ eingekehrt, weil sie da vor kurzem einige ihrer Bilder zum Verkauf hatte aufhängen dürfen. Die Inhaberin war eine magersüchtige Bulgarin mit wilden, schwarzen Locken. Annegret bestellt sich ein Glas Rosé und ich alkoholfreies Bier, denn die Sitten hierzulande sind wahrlich streng: Zwischen 0,5 und einem Promille kostet es 500 Euro, darüber bis zu 1,5 Promille 1000 Euro, und danach ist der Führerschein weg. Das würde mir grade noch fehlen. Also bin ich ca. 20 vor elf stocknüchtern und guten Gewissens heimgefahren. Leider ohne siegreich überstandene Alkoholkontrolle.