23. Dezember

Morgens hab ich dann den Essay fertig geschrieben (das ist ein Euphemismus; letztlich empfinde ich Text nie als „fertig“) und zum Lektorat an Ursl gemailt.
Mittags hielt ein gelber Pkw mit der Aufschrift „Correos“ vor unserem Grundstück. Ich hab’s wegen der Bewegung im rechten Augenwinkel bemerkt. Der Fahrer hatte auf das Tischchen am Eingang ein Päckchen gelegt – ein Weihnachtspäckchen meiner Freundin Anke. Ich bin gerührt.

Heute Nachmittag und Abend fühle ich mich seltsam unruhig. Ob das etwas damit zu tun hat, dass ich morgen zum ersten Mal in meinem Leben kein Weihnachten im Familien- oder Freundeskreis feiere? Nein, stimmt nicht, 1976 gab es das schon einmal, nämlich in Schottland. Damals war ich tatsächlich traurig. Das wird mir doch hoffentlich morgen nicht genauso ergehen? Ich will’s nicht glauben.

Ich habe mir Orangen besorgt und einige Gewürze, die ich hier bekommen konnte: Davon werde ich mir morgen einen Punsch machen, oder vielleicht heute schon, weil ich morgen Abend nach Palma reinfahren will zu den Sibyllinischen Gesängen in der Kathedrale. Ich hatte mir überlegt, davor essen zu gehen, aber der Gedanke ist eher der Tradition geschuldet, Weihnachten müsse etwas Besonderes sein. Tatsächlich habe ich mir schon vor ein paar Tagen Quark besorgt, so dass ich morgen eines meiner Lieblingsgerichte machen werde: Quark mit Pellkartoffeln. Wenn das mal kein Weihnachtsessen ist.

19.09: Heute Abend gibt’s Punsch in der Casa Bobby. Ich habe den Saft von drei Orangen mit einem großen Glas guten Wein gemischt. Das zieht jetzt zusammen auf dem Herd. Seltsam, dass ich hier noch keine Orangen gekauft habe. Dabei esse ich sie gerne und hab eben festgestellt, dass sie wunderbar aromatisch sind. Offenbar waren sie mir hier immer zu „üblich“, um sie ernst zu nehmen. Doof. 1 Kilo hat 1.40 Euro gekostet. Als ich gestern auf dem Weg zum Tramontana-Gebirge durch die Stadt Inca fuhr, gab’s da eine lange, von Orangenbäumen gesäumte Straße, und überall unter den Bäumen lagen abgefallene Früchte. Da sind die Mallorkiner auch nicht anders als die Deutschen. Keine Zeit, keine Lust zum Aufsammeln. Ich hatte schon die Idee, irgendwo zu parken und Orangen aufzusammeln. Warum ich’s letzten Endes nicht gemacht habe? Wahrscheinlich, weil ich schon ein bisschen spät dran war.

Aber jetzt erst mal Zirkel-Training. Und danach geht’s – mit Punsch – ans Milena-Projekt.

Irrtum, es sind an die 300 Mails nicht durchzusehen. Das muss ich leider vorziehen. Hoffentlich ist’s über die Feiertage weniger. Unter anderem lese ich den frisch übersetzten (und noch unpublizierten) Eisenstein-Essay „Im Zentrum der Ungewissheit, während die Welt weint. Was tun?“ Wenn ich ihn heute nicht lese, lese ich ihn nie. Oft erfahre ich durch diesen Autor/Philosophen ein Stück Horizonterweiterung.

21.43 Uhr. So endlich durch. Jetzt ist’s natürlich vorbei mit dem Milena-Projekt. Unter zwei Stunden brauche ich damit gar nicht anfangen. Aber vielleicht kann ich die Autobiografie noch ein wenig vorantreiben. Na ja, um 22.25 Uhr ist endgültig Schluss.

24. Dezember

6.11 Uhr: Nach einer genüsslichen Duschorgie sitze ich an meiner Arbeit und das kommt mir richtig vor. „Frohe Weihnachten“? Dieser in Bäckereien und Metzgereien beliebte Gruß war mir in den meisten Anwendungsfällen sinnlos und leer erschienen. Mein innerer Abstand dazu passt sehr gut mit dem jetzigen äußeren Abstand zusammen; fühlt sich richtig harmonisch an.

Als ich mich gestern bewusst damit abgefunden hatte, dass es nichts mehr wird mit der Arbeit am Milena-Projekt, war auch die Unruhe weg.
Sowas kann einem nur im Süden passieren. Vorhin brachte ich unseren Müllsack zu einem großen Container, neben dem auch Grüngut lag. Dabei handelte es sich um den Abfall des Rückschnitts eines Zitronenbaums. Dran hingen noch ca. 50 große Zitronen. Also bin ich heim marschiert, bin mit nem Beutel wiedergekommen und trug eine „Beute“ von 22 großen Zitronen heim. Das dürfte reichen bis zu meiner Heimkehr nach Würzburg.

14.34 Uhr. Eben hab ich die „Bescherung“ hinter mir. Ich habe Ankes Päckchen ausgepackt und dabei meinen sentimentalen Anteil genüsslich ausgelebt. Ein echtes Geschenk war das, das zudem noch an Wert gewonnen hat, weil es ja von der Ostsee bis übers Mittelmeer gereist ist. (Eben ruft der Edelmarzipan-Nugat-Baumstamm nach mir, ich hatte ihn schon in der Hand, habe ihn aber mit einem klaren „Nein, später!“ in seine Schranken gewiesen.) Die Post ist schon eine kulturelle Errungenschaft, zumal, wenn man von ihr profitiert und sie einem keine Rechnungen zustellt. Sogar Hausmacher-Plätzchen waren drin. Also doch ein bisschen Weihnachten, un peu. Un poquito de navidad.

15.00: Endlich mal wieder viel Zeit fürs Milena-Projekt!
17.19: Es läuft gut, ich komm voran.
18.02: Die Kartoffeln sind aufgesetzt, der Quark ist angemacht und steht schon auf dem Teller neben mir.

20.16: Die Küche ist wieder im Originalzustand. Mein Lieblingsgericht auf Mallorca zu Weihnachten. In Würzburg hätte es das nicht gegeben. Bin wunderbar gesättigt mit drei großen Kartoffeln und rund 250 g Quark mit viel Zwiebeln und Knoblauch. In Deutschland hätte ich letzteres wohl nicht gewagt, wenn ich mich unter viele Menschen begebe. Zum Nachtisch gab’s zwei Stück Schokolade.

Jetzt habe ich schon mal die passende Tankstelle in Palma rausgesucht und den Platz mit dem Haupteingang zur Kathedrale: Plaza de la Seu. Ich konnte nicht rausfinden, ob die Kathedrale sehr kalt ist oder sogar geheizt. Also werde ich mich wohl einmummeln, damit ich dort nicht zitternd rumstehe: 2 Unterhemden, hochschließender Pulli, Hemd, Wolljacke. Lässt sich alles der Reihe nach ausziehen. Hab ja keinen Mantel dabei.

Bin etwas nervös, das Tanken muss klappen und ich hoffe, dass ich für die Kathedrale nicht vorher irgendwo ein Ticket hätte lösen müssen, sondern dass ich das am Eingang bekomme, falls nötig. Na ja, falls ich doch vorher ein Ticket hätte besorgen müssen, dann schau ich mir die Kathedrale mal untertags an und werde stattdessen heute Nacht durch Palma bummeln. Hat auch was.

Jetzt warte ich noch ein paar Minuten, damit das Handy mehr Saft bekommt (wenigstens 80%), das Navi schluckt doch einiges.

25. Dezember

Aller äußeren Vorgaben und Stimulanzien entblößt, empfinde ich den heutigen Tag als einen ganz normalen Tag. Der Wunsch nach Kerzenlicht, der gestern früh sehr präsent war (und Kuschelatmosphäre), fehlt heute. Weihnachten ist für mich offenkundig der 24. Und fertig. Trotzdem zünde ich mir die Kerzen neben dem Rechner an, weil’s trotz 8.48 Uhr noch ein wenig düster draußen ist und ich’s einfach mag.

Gestern hat alles perfekt geklappt. Die Tankstelle war da, wo das Navi sie geortet hat, der Tankwart hat mit auf Englisch erklärt, wo ich an der Kathedrale kostenlos parken kann. Ich war um Viertel vor 10 Uhr da, ich musste keine Karte kaufen, war kostenlos und ich saß in der 4. Bank von vorne rechts in der rechten Sitzreihe (es gab 3 Reihen). Die Kathedrale war auch leicht überschlagen, nicht direkt warm, aber genug, dass ich meine Wolljacke nicht gebraucht habe.

Die Messe war ein aufwändiges Hochamt mit Bischof (der aber seine Bischofsmütze nur beim Einzug und Auszug der Priester, 8 an der Zahl, aufhatte. Auch sein rotes Käppi darunter hat er abgelegt), aber nicht so pompös wie uns, feiner irgendwie. Er hatte übrigens eine wunderbare Stimme, denn bei Hochämtern wird ja alles gesungen. Den sehr filigran singenden Chor konnte ich nirgendwo entdecken, nur irgendwo vorne einen Dirigenten. Der Sibyllengesang wurde von einer Frau, geschätzt um die 40, auf einer Empore vorgetragen. Sie hatte ein festliches Gewand an, trug eine Art Helm und ein Schwert, das sie mit beiden Händen vor sich hielt. Ihr Gesang – uralte, vermutlich ursprünglich heidnische Tradition, dann ins Christliche umgemünzt – dauerte ca. eine Viertelstunde oder etwas länger, war immer ein Dreischritt – sie solo, dann der Chor, dann die Orgel (ebenfalls nicht wuchtig) – hat mir gut gefallen. Die aktuelle Version stammt aus dem Mittelalter und handelt von der Apokalypse und der Wiederkehr Christi, wo nur die Guten überleben werden. Der Gesang war meistens eher zart, aber einmal auch sehr dramatisch.

Vor der Sibylle hielt ein wunderschöner, geradezu engelhaft wirkender junger Mann, sicher nicht älter als 18 Jahre, eher jünger, auf der Kanzel eine Art rituelle Predigt. Es hat auch seinen Vorteil, wenn man kein Wort versteht (war ja größtenteils im mallorkischen Dialekt), dann kann man unabgelenkt zuschauen, ist ein bisschen wie im Museum. Einen guten Eindruck von der Atmosphäre und dem Gesang bekommt man auf diesem Video: El cant de la sibil·la (Mallorca) – The chant of the sybil (Majorca) – UNESCO Cultural Heritage (muss man sich eben die Solostellen raussuchen).

Das ganze Schauspiel dauerte von 11 Uhr bis kurz vor Eins. Um halb zwei war ich zu Hause, aber irgendwie so stimuliert, dass ich mich noch nicht schlafen legen mochte. Also hab ich mir noch ein Glas Rotwein eingeschenkt und mich mit Dostojewskij und ein paar Spekulatius aufs Sofa gelegt.

 

 

Heute nichts Besonderes, außer wieder einem Haufen Mails. Grummel. Ich denke, ich werde zur Beruhigung den Ruf des Edelmarzipan-Nugat-Baumstamms erhören.