21. Januar
Letzten Sonntag wollte ich mit Annegret auf einen großen Flohmarkt fahren (heißt witzigerweise „el rasto“), aber das Wetter war nieselig novembrig, also haben wir’s auf kommenden Sonntag verschoben.
Es gibt hier im Haus eine interessante Situation des Zusammenlebens, die es natürlich überall gibt, nur ist sie mir hier besonders aufgefallen. Manchmal sitze ich im Wohnzimmer auf dem Sofa zum Lesen. Wenn dann einer meiner Mitbewohner in die Küche geht, muss er/sie an mir vorbei. Irgendwie ergibt sich dann scheinbar die Notwendigkeit einer Mini-Kommunikation. Aber einander in der gemeinsamen Wohnung „Hallo“ zu sagen, ist affig. Also gibt es nur zwei Alternativen: Man sagt irgendwas Belangloses wie „Guten Appetit“ oder man sagt gar nichts, was aber eigentlich nur durch Vermeidung des Blickkontakts mühelos funktioniert. Geschieht so ein Blickkontakt trotzdem und man mag grade gar nichts sagen, dann lächelt man sich wenigstens zu. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn man jemandem in einer einsamen Landschaft begegnet. Aber vielleicht ist unsere Wohnung ja eine einsame Landschaft.
Ich merke, wie mir hier allmählich der Stoff ausgeht. Ich mag ja nicht immer herumfahren, also mach ich meine Arbeit, lese und schreibe. Wahrscheinlich werde ich 90 Prozent der mitgenommenen Lektüren tatsächlich gelesen haben. Grade bin ich über dem wunderbaren Roman von James Baldwin „Giovannis Zimmer“. Kann ich alles, die gerne Gutes lesen, sehr empfehlen: https://de.wikipedia.org/wiki/Giovannis_Zimmer
Bei dem Romanprojekt komm ich erfreulicherweise besser voran als erhofft, so dass es vielleicht schon nächstes Jahr fertig wird (zumal mindestens weitere 20 angedacht sind, also weit über meinen Tod hinaus 😊).
Morgen habe ich einen großen Ausflug geplant. Da gibt’s sicher fantastische Bilder.
22. Januar
Bin schon gegen halb zehn Uhr nach Cap Formentor gefahren, die Nordostspitze Mallorcas. Ich hatte da schonfrüher hingewollte, aber es hieß, das Gebiet sei wegen des hohen Andrangs (sensationelle Aussichten) für Pkws gesperrt und könne nur per Bus besichtigt werden. Das war mir zu umständlich von hier aus, also hatte ich’s innerlich gestrichen. Dann hat mich vor ein paar Tagen mein Mitbewohner erzählt, er habe gelesen, es sei nur von Juni bis Oktober geschlossen. Das hat sich bestätigt.
Auf dem Weg kam ich an Sineu vorbei [e und u werden getrennt gesprochen]. Sineu, Sineu, da war doch was! Also angehalten und nachgeschaut: Vieh- und Kunsthandwerksmarkt, der der einzige echte Bauernmarkt auf Mallorca. Und wann: am Mittwoch. Heute ist Mittwoch. Na, dann muss das wohl sein. Am Ortsrand war eine Wiese als Parkplatz hergerichtet, der Weg zu den Parkplätzen etwas verschlammt, aber die bekam einen Platz direkt zur Straße hin, so dass ich die kleine Böschung hochsteigen konnte und nicht durch den Matsch gehen musste. War deutlich größer als der in Santanyi, aber jetzt auch wieder nicht sooo was Besonderes. Gut, es wurde lebendes Geflügel verkauft, außerdem eine hier wohl sehr angesehene Hunderasse, alle Tiere noch klein in einem großen Käfig, die hundsjämmerlich gekläfft haben und dauernd in die Luft gesprungen sind; hatten wohl zu wenig Auslauf. Die äußerlich recht eindrucksvolle Kirche am hochgelegenen Ortskern voll hübscher, enger Gassen war innerlich „na ja“.

Bauernmarkt mit Interessentin

Die Kirche von Sineu – äußerlich imposant
Als ich zu einem anderen Portal wieder rausging, stand ich vor dem Marktplatz, wo Lebensmittel angeboten wurden. Ne Weile hab ich mit mir gerungen, ob ich nicht von dem verlockenden Angebot Oliven mitnehmen soll, von denen es mindestens 30 üppig angebotene Sorten gab. Aber dann hatte ich ne bessere Idee: Ich setze mich in die Sonne vor nem Café, trink nen Americano bestelle dazu eine Portion Oliven mit Brot. Und so war’s dann auch. Ich saß auf einem Vorplatz oberhalb des Hauptmarkts in der prallen Sonne nur im Hemd mit zwei älteren Saarländern (der Mann beklagte sich über die Ampelregierung, die mit ihrem ökologischen Unsinn die Menschen verrückt mache). Die süße Bedienung sprach gut Englisch. Beim Bezahlen (3,60 € insgesamt) lobte sie meine Kamera, meinte, sie fotografiere auch gern und komme aus Nicaragua.
Zurück zum Auto waren es ca. 15 Minuten. Jetzt also los zum Cap Formentor. Ich gehe das kleine Stück Straße parallel zum Parkplatz lang zum Auto, steige die kleine Böschung runter und dann – aua! – Schmerz im rechten Knöchel, das ich umgeknickt habe in irgendeinem Loch im Gras, und ich liege auf dem Boden. Verdammter Mist! Die letzten paar Meter zum Auto gehumpelt, für den Platzanweise an der Einfahrt 2 Euro Trinkgeld rausgekramt und losgefahren. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm. Fuß umknicken (immer der rechte) ist so ne Art Schmerzenshobby von mir; mein Mitbewohner meinte, einer Kollegin sei was Vergleichbares passiert, und sie mache nach drei Monaten immer noch damit rum. Hab ich nicht vor).
Gas geben ging problemlos. Es waren noch ca. 60 Kilometer. Direkt hinter Port Pollença begann die eigentliche Passstraße: 19 Kilometer. Wow, das wird ein Erlebnis! Nur Vorsicht, Vorsicht, vielleicht war das ja eine Warnung. Diese Straßen haben es in sich. Nach ca. zwei Kilometern laufen links am Straßenrand zwei junge Leute, eindeutig keine Einheimischen. Ich halte an: „Do you want a ride?“ Er schaut sie an, sie ihn, dann sagt sie: „Yes!“ Es sind zwei Franzosen, beide Medizinstudenten, er im 8. Semester, sie im 6. „Where do you want to go?“ „To Cap Formentor.” “That’s, where I’m going.” Die beiden hatten gedacht, sie könnten das wander, genauer gesagt: Er hatte das gedacht und sie hatte gesagt: Wenn du meinst. Am Schluss sagt sie zu mir: „You were our angel of the day“, denn sie hätten im Endeffekt auf der Straße laufen müssen. Und die vier Miradores (Aussichtspunkte), die angelegt waren, boten wirklich atemberaubende Steilküstenbilder, dass einem schier schwindlig wurde. Ganz am Ende, am Leuchtturm, haben wir dann auf einen Kaffee im Restaurant spekuliert, aber wir kamen fünf Minuten vor Geschäftsschluss – kein Kaffee. Na, immerhin bekam ich Fläschchen Pfirsichsaft spendiert. Zu dem Zeitpunkt hatte sich mein Fuß allerdings zu einer Art schmerzhaften Klumpen verwandelt. Ich ging bzw. humpelte wirklich wie ein gehbehinderter Opa. Die Miradores hatten ja auch teilweise 50 Meter, einer ca. 200 Meter Weg verlangt. Die letzten zwei hat mir der Franzose seine Hand zum Abstützen angeboten, sehr liebenswürdig.

Meine französischen Wegbegleiter
Die 19 Kilometer zurück waren nicht so schlimm, aber in Port Pollença, als wir auf nen Kaffee gingen, hatte ich dann schon eher Mühe, überhaupt noch zu gehen – was ich stark unterschätzt hatte, denn vom Parkplatz zum Hafencafé waren es mindestens 300 Meter, und der Fuß fand das gar nicht gut.. Aber auf der Terrasse, in der Sonne am Hafen, war’s natürlich wieder schön, und ich bekam zum Kaffee ein Stück Mandeltorte spendiert. Nach ner knappen Stunde sind die beiden losgelaufen, weil sie festgestellt haben, dass ihr Bus zurück nach Palma in zehn Minuten abfährt. Für die 300 Meter zurück hab ich bestimmt zwanzig Minuten gebraucht und musste zwischendurch stehenbleiben, damit der Schmerz nachlässt. Hätt ich mal lieber auf den Kaffee verzichtet, ich Esel! Im Auto hab ich meinen Proviant verzehrt: einen Apfel und eine Banane. Am Ortsausgang kam ich an einer Apotheke vorbei; nachgeschaut, was ich sagen muss: Me ho torcedo el pie. Necesito una bandeja [ich habe mir den Fuß verstaucht. Ich brauche eine Bandage]. Der Apotheker hat mich gefragt: „Como un calcetin?“ Eigentlich hatte ich erst vor kurzem das Wort für Socken (calcetin) gelernt, aber jetzt war’s ausm Hirn verdampft. Na ja, er hat’s gebracht, war genau das Richtige. Hat 4 € gekostet. Bevor ich mir das Ding über den Fuß zwängte, hab ich noch meine Schwellung dokumentiert. Endlich was zu erzählen!
Zuhause war ich dann gegen halb sieben. Die zehn Meter vom Auto zur Haustür waren eine Herausforderung. Mit Schreiben war’s jetzt nichts mehr. Also hab ich mich mit dem Laptop ins Bett gesetzt und mir zwei Videos zu Franz Kafka angeschaut. Zwischendurch konnte ich mich noch meinen Mitbewohnern mitteilen; sie hatten ein Kältekissen im Kühlschrank und ein Kneipp Arnika Kühl- und SchmerzGel. Ausziehen war dann umständlich.
[Jetzt, da ich das geschrieben habe, um 16.20 Uhr des Folgetages, sind die Schmerzen fast weg. Die letzte Dolormin hab ich nachts um halb drei geschluckt.]
23. Januar
So wie’s aussieht, werde ich heute keine Schmerztablette mehr brauchen; die Schwellung ist leicht zurückgegangen; meine Arbeit (wie auch dieses Tagebuch) hab ich mit dem rechten Bein auf nem Hocker erledigt. Die Fortschritte sind erstaunlich, mein Gehen ist nur noch ein halbes Humpeln. Am späten Vormittag saß ich dann wieder auf der gegenüberliegenden Straßenseite beim Lesen in der Sonne. Und vorhin, bevor ich mich ans Schreiben des gestrigen Tages machte, hab ich ein sensationelles Mittagsschläfchen in der Sonne verbracht; hab mir auf der Terrasse zwei Stühle in der Sonne zurechtgezogen, mich gegen den Wind in eine Decke gehüllt und mindestens 20 Minuten mit hochgelegten Beinen gepennt. Groooßartig. So, und jetzt gibt’s noch mal „Kneipp Arnika Kühl- und SchmerzGel“ auf die Schwellung, dann werde ich mir das Romanprojekt vorknöpfen.
Nein, ich habe mir vorgegriffen, erst wird gekocht, dann gegessen und dann geschrieben. Also gibt’s eine große Gemüsepfanne, dazu übrigen Reis und ein Glas Demeter-Biowein vom Ali (4,80 €). Na ja, bis das dann alles gegessen ist, dazu Georges Bataille gelesen, und wieder abgewaschen und der Ofen angeworfen ist, ist 18.25 Uhr. Jetzt tut das Knöchl a bissle weh, aber nicht schlimm, war wohl das lange Stehen beim Kochen und Küche- Aufräumen. Heute war’s so mild, dass ich tatsächlich auf der Terrasse ohne Bibber-Gefühle essen konnte.
Jetzt aber!
Eben gelernt, wie das spanische „muy bien“ auf Portugiesisch heißt, „muito bem“, ähnlich, aber doch so anders, dass ich’s nie erkennen würde, ein bisschen kindlich – seltsame Assoziation.
24. Januar 2025
Der heutige Morgen hat mich enttäuscht. Ich bin mit einem Dauerschmerz im rechten Knöchel aufgewacht. Die gestrigen schnellen Genesungsgefühle waren also auf die restliche Auswirkung der Dolormin-Tablette zurückzuführen. Der Schmerz ist leicht, aber nicht so leicht, dass ich mich daran gewöhnen würde; andererseits leicht genug, dass er mich nicht von der Arbeit abhält und ich keine Tablette einzunehmen brauche – vorerst.
Und wieder eine Lese-Session in der Sonne. Ich kämpfe mit Batailles hohem philosophischen Anspruch und seiner sperrigen Gedankenführung. Aber manchmal kann ich eine ganze Seite lesen, ohne aus dem Trab zu kommen, und immer wieder gibt es mich inspirierende Passagen, z.B.
„Es scheint, dass die Angst das Menschsein begründet: Aber es ist nicht die Angst allein, sondern die … Überwindung der Angst. Das Leben ist seinem Wesen nach ein Exzess; es ist die Verschwendung des Lebens. Grenzenlos schöpft es seine Kräfte und Ressourcen aus; grenzenlos vernichtet es, was es geschaffen hat. Die Vielzahl der lebenden Wesen bleibt passiv in diesem Treiben. Im Äußersten jedoch sind wir entschlossen zu bejahen, was unser Leben in Gefahr bringt … Wer Kraft und Mittel hat, verausgabt sich ununterbrochen und setzt sich fortwährend Gefahren aus.“
In der Sonne sitzend stelle ich eine Besonderheit der hiesigen Architektur fest, die mir weder in Frankreich, Italien oder Griechenland aufgefallen ist: Beinahe jedes ein- oder mehrstöckige Haus verfügt über eine offene, aber überbaute Fläche, also entweder eine überbaute Terrasse oder einen ins Gebäude integrierten Balkon. So kann man im Freien sitzen, ohne der Sonne ausgesetzt zu sein. Solche Überdachungen sind hier architektonische Notwendigkeiten, in Deutschland sind die Spielereien, meist ersetzt durch eine ausrollbare Markise, wenn’s doch mal heiß wird.
25. Januar
Es geht bergauf. Heute schon ein paar normale Schritte gemacht, so dass ich mir zugetraut habe, nach Campos zum (vermutlich letzten) größeren Einkauf zum Aldi zu fahren. Auf dem Weg, kurz vor einem der hier allgegenwärtigen Kreisverkehre fahre ich auf einen Stau zu, beidseits Polizei. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich alle nötigen Papiere im Auto habe, also mach ich lieber kehrt und schlängele mich durch das Gewirr winziger Straßen, vorbei an schönen Fincas (z.B. Can Canals, https://cancanals.es) außenrum. Aber irgendwann muss ich ja doch in Richtung Campos über die größere Straße nach Santanyi; und was steht da? Nein, keine Polizei, aber ein mit einer prächtigen Seguridad-Weste geschmückter Motorradfahrer, der mir auf Englisch erklärt: Hier findet grade eine Motorradrennen statt, ist aber gleich zu Ende. Bitte warten Sie. Nach fünf Minuten kann ich weiterfahren.
Vorm Aldi steht mein inzwischen altbekannter dunkler Afrikaner, der mich freudig begrüßt, weil er weiß, dass ich was in seinen Hut legen werde. Er steht da ganz unauffällig und wenn man nicht genau hinschaut, könnte man denken, er wartet auf jemanden. Na, er bekommt 2 Euro von mir. Kaum hab ich meine Sachen ins Auto geräumt, kommt er angelaufen, um meinen Wagen zurückzubringen. Gracias, gracias, señor!
Ich notiere mal, was ich eingekauft habe. Dann hat man einen ganz guten Eindruck meiner Ernährung hier:
18 l agua mineral – 4,18 €
pepinillo (Saure Gurken, hab ich als Leckerei entdeckt) – 1,79 €
leche fresca (Frischmilch, wobei das nur heißt: keine H-Milch) – 1,09 €
miel ecologica (Honig) – 5,49 €
2 x eco tomate frito (Tomatenpüree im Glas) – 3,38 €
500 ml kefir liquido (Trinkefir) – 1,47 €
eco galleta avena choc (Biokekse) – 2,29 €
2 eco pimientos dulces (Gemüsepaprika) – 1,89 €
590 g calabacín (Zucchini) – 2,49 €
446 g platano eco granel (kleine Biobananen) – 1,80 €
4 Peras Rochas (kleine portugiesische Birnen) – 1,17 €
Ergibt zusammen 29,68 €
Dann mach ich jetzt mal meine nächste Tagebuchsendung fertig (sind ziemlich viele Bilder zu verkleinern und hochzuladen, wird also mindestens, alles zusammen, ca. 1 Stunde dauern). Danach gibt’s endlich wieder den Englischen Tee mit Milch und Honig, und dann geht’s ans Romanprojekt. Ola!
Gute Besserung deinem lädierten Fuss, lieber Bobby!
Herzliche Grüsse
Peter
Dankschön! Ich hab ihn gestern schon wieder ziemlich herausgefordert, aber er hat’s mir verziehen.